Im Killerspiel gegen
die Wand laufen
Wissenschaftler untersuchen Spielfilme und Computerspiele
In einem Regal reihen sich Computerspiele aneinander, an der Wand hängen Bilder von Gandalf und Saruman und die beiden Wissenschaftler reden so schnell, als hätten sie die Geschwindigkeit aus einem Rennspiel übernommen.
Henriette Heidbrink und Jürgen Sorg haben Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung an der Universität Siegen studiert und forschen jetzt in dem Projekt "Mediennarrationen und Medienspiele". Dafür untersuchen sie Mischformen von Spiel und Erzählung in Computerspielen und Spielfilmen seit Anfang der 90er Jahre. Ziel ist es, einheitliche Begriffe für die Analyse zu entwickeln.
"Bei der Diskussion um die Killerspiele meint jeder etwas anderes", erklärt Henriette Heidbrink. "Wir wollen mit unserer Forschung medienpraktische Anwendungen und Medientheorie verbinden." Die 31-Jährige spielt gerade selbst den Ego-Shooter "Quake" und war anfangs lange damit beschäftigt, nicht immer gegen Wände zu rennen. Aber gerade so etwas wie die Raumerfahrung in Rollenspielen aus der Ich-Perspektive müsste in die Diskussion mit einbezogen werden. "Letztlich ist so ein Spiel ja einfach eine sportliche Herausforderung."
Aber die Killerspiele stehen nicht im Zentrum des Interesses der beiden Forscher. Sie beschäftigen sich mit Details, mit den funktionalen Einheiten der Computerspiele und Spielfilme und versuchen, die Frage zu beantworten, welche Effekte die jeweiligen Spiel- und Erzählformen haben.
Inszeniertes Game Over
Auf dem Sektor der Computerspiele schauen sie sich Spielfiguren an, vergleichen, wie Fahrzeuge oder Waffen eingesetzt werden, untersuchen Spielwelten, Handlungen und das Spielziel. Das ist das Fachgebiet von Jürgen Sorg. In seiner Promotion schreibt er gerade parallel zum Projekt darüber, welche Formen das Computerspiel bis heute ausgeprägt hat, welche erzählerischen Funktionen es übernimmt.
Henriette Heidbrink bringt in die Forschungsgruppe vor allem das Wissen über die Figur in Spielfilmen mit ein. "Mich interessiert die Frage, warum sich ein Rezipient an einen Film bindet", erklärt sie. "Meistens liegt es an einer Figur." In ihrer Dissertation vertieft sie jetzt eine psychologische Fragestellung: Wie können etwa Lieblingsfilme von Probanden in Therapien eingesetzt werden?
Im Fokus des Projektes "Mediennarrationen und Medienspiele" stehen Computerspiele und Spielfilme ab den 90er Jahren, weil sich seitdem Spiel- und Erzählformen in beiden Gattungen vermischt haben. Bei "Lola rennt" etwa stirbt zuerst zweimal ein Protoganist, bevor beim dritten Durchlauf ein Happy End folgt. Es wird ein "Game Over" inszeniert, das den Zuschauer wie einen Spieler an den Anfang zurückwirft.
Sie untersuchten auch Christopher Nolans Film "Memento", dessen Handlung zerstückelt und rückwarts erzählt wird. "Hier hat jemand konsequent Erzählstrukturen eingesetzt, die es in der Literatur schon lange gab", erklärt Henriette Heidbrink. Eine Konsequenz dieser komplexen Struktur sei jedoch, dass die Figuren eher stereotyp bleiben, so die Forscherin. "Wenn eine Arbeit formal innovativer wird, fällt sie meist zwangsläufig auf der erzählerischen Ebene ab."
Das Genre Spielfilm ist formal ausgereizt
Auf der anderen Seite gibt es auch immer mehr Computerspiele, in denen es nicht mehr alleine darum geht, so viele Gegner wie möglich abzuschießen. Eine Geschichte, eine Handlung, die sich der Spieler erarbeiten und durchleben muss, gewinnt an Wichtigkeit. Aber weil es hier meist die Komponente "Action" gebe, könne die Figur wiederum schwächer sein, erklärt Jürgen Sorg.
Er sei ein Spieler, sagt der 31-Jährige über sich. "Mich interessieren Computerspiele, weil in ihnen die abgefahrensten medienästhetischen Trends zu beobachten sind." Außerdem gebe es noch ein großes Entwicklungspotenzial. "Das Computerspiel steht von seiner Entwicklung heute dort, wo sich der Film 1915 befand." Und Henriette Heidbrink fügt hinzu: "Literatur und Film sind formal schon fast ausgereizt." Am Innovativsten seien eben die Filme dann, wenn sie wie "Lola rennt" und "Memento" Spielformen integrieren.
Bei der Analyse von neuen Erzählformen in Spielfilmen ist ein Regisseur immer wieder für die Forscher interessant. "Quentin Tarantino ist voll von Formwissen", sagt Henriette Heidbrink über den Filmemacher, der sich selbst als Filmfreak bezeichnet. "Wir könnten keinen besseren Film machen, aber bestimmte Mittel bewusster einsetzen."
Auch wenn es die beiden Wissenschaftler selbst nicht vorhaben, könnten sie am Ende ihrer Forschungen durchaus eine Drehbuchwerkstatt gründen und die Konstruktionen von Geschichten mit ihrem Rüstzeug verbessern, erklären sie.
Wissenschaftler und Fan
"'Kill Bill' hätte mehr Oberflächenstruktur gebraucht", sagt Henriette Heidbrink. "Ich finde ihn großartig", antwortet Jürgen Sorg. Manchmal sind eben auch Wissenschaftler einfach nur Fans.
HINTERGRUND
Beitrag zur Spiel- und Erzähltheorie
Das Projekt „Mediennarrationen
und Medienspiele” wird
von Professor Rainer Leschke
betreut. Er arbeitet dabei wie
Henriette Heidbrink an der
Form der Figur. Außerdem ist
Dr. Jochen Venus beteiligt, der
sich wie Jürgen Sorg dem Computerspiel
widmet.
Mit der vergleichenden Analyse
der einflussreichsten und
erfolgreichsten Computerspiele
und Spielfilme seit 1990 wollen
die Wissenschaftler die Vermischung
von Spiel und Erzählung
im Zeitalter digitaler Medien
aufdecken und damit einen
Beitrag zur allgemeinen
Spiel- und Erzähltheorie leisten.
Die Forschungsarbeit der
Gruppe läuft im Rahmen des
Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medienumbrüche”,
in dem Voraussetzungen
und Strukturen von Veränderungen
in der Medienwelt zu
Beginn des 20. Jahrhunderts
und im Übergang zum 21. Jahrhundert
untersucht werden.
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Henriette Heidbrink und Jürgen Sorg analysieren
funktionale Einheiten
von Computerspielen und Spielfilmen.
Foto: Tim Meyer
Artikel als PDF-Datei
© Westfalenpost, 15. Dezember 2007
Die Serie „Forschen in Siegen“ wurde in den Dokumentationsband „Ausgezeichnet - Deutscher Lokaljournalistenpreis 2007“ aufgenommen.
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