„Wir waren das schlechte Gewissen der DDR und Symbol für die Abnormität in Deutschland“

20 Jahre Mauerfall: Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter dokumentierte Tötungsfälle an der Grenze und Opfer politischer Justiz

Salzgitter. Auf den ersten Blick ein ungewöhnliches Ziel kurz nachdem die Grenzen 1989 gefallen waren. Die Stadt hat nicht vordergründig etwas zu bieten, was einen DDR-Bürger magisch anziehen könnte. Trotzdem steuerten zielstrebig die Trabis die Adresse „Am Pfingstanger 2“ an. Hans-Jürgen Grasemann erinnert sich genau, wie die Autos auf den Parkplatz rollten. Aber auch in diesem rot-braunen Backsteingebäude gab es eigentlich nichts zu sehen. Drei, vier Zimmer und Akten. Diese Aufwartung war mehr ein Akt der Dankbarkeit, der Solidarität.
„Die Leute wollten Dampf ablassen“, sagt Hans-Jürgen Grasemann. „Sie standen bei uns im Zimmer und meinten: ‚Ihr ward der Lichtstrahl für uns.‘“ Das war im November 1989.
28 Jahre vorher beginnt die Geschichte der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter. Später war nur noch „Salzgitter“ für die Funktionäre der DDR Synonym für Augen und Ohren, die auf etwas gerichtet waren, was man lieber verbergen wollte. Für die DDR-Bürger war der Ort Symbol für Unrecht, das nicht vergessen wird.
In der Erfassungsstelle wurden seit 1961, dem Jahr des Mauerbaus, die Toten und Verletzten an der Grenze, die Opfer der politischen Justiz und des Staatssicherheitsdienstes sowie Misshandlungen im Strafvollzug dokumentiert. Damit war man einem Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters in Berlin, Willy Brandt, gefolgt, der eine „organisatorische Grundlage für eine bundeseinheitliche und umfassende Strafverfolgung der Untaten der Gewalthaber der SED“ schaffen wollte. Vorbild war die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.
Wenn Hans-Jürgen Grasemann, der von 1988 bis 1994 stellvertretender Leiter in Salzgitter war und heute Oberstaatsanwalt in Braunschweig ist, über seine Arbeit erzählt, fängt er nicht mit Zahlen an. Es sind die Einzelschicksale von Menschen, die sich über die Grenze in die Freiheit kämpfen wollten, die ihn bis heute nicht loslassen.
Berlin, 9. April 1969, 22 Uhr. Johannes Lange nähert sich der Mauer, klettert über einen Zaun und Panzersperren. Dann löst er doch versehentlich Alarm aus, die Grenzer können ihn jetzt von ihren Wachtürmen orten. Acht Soldaten sind gerade auf den Posten, weil Wachablösung ist. 148 Schüsse werden abgefeuert und Johannes Lange stirbt vor dem letzten Hindernis, der dreieinhalb Meter hohen Betonmauer.
„Da kommt er ja gar nicht rüber“, sagt Hans-Jürgen Grasemann und schüttelt den Kopf. Die Grenzsoldaten hätten den Mann ohne große Schwierigkeiten festnehmen und ins Gefängnis stecken können. Das wäre nach DDR-Recht vollkommen einwandfrei gewesen.
Nachdem Johannes Lange erschossen wurde, löschten sie das Licht und transportierten den Leichnam ab. „Das zeigt doch auch, dass sie ein schlechtes Gewissen hatten“, meint Hans-Jürgen Grasemann.
Kurz darauf wurden die beteiligten Grenzer ausgezeichnet und befördert, drei Soldaten erhielten als Prämie eine Armbanduhr.
Ein paar Tage nach diesem 9. April traf in Salzgitter ein Brief ein. Ein Bundesbürger schrieb, er habe bei der DDR-Militärstaatsanwaltschaft gegen die Grenzposten Anzeige wegen Mordes erstattet. Davon verspreche er sich zwar nichts, aber er wollte, dass sie wissen, „wie man in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik solche Taten betrachtet“.
Genau dafür gab es Salzgitter. Es ging darum, die Voraussetzung für staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren und eine spätere Strafverfolgung zu schaffen, für die eigentlich die Behörden der DDR zuständig gewesen wären. Beweissicherung. Verfügbares Material wurde in der Erfassungsstelle gesammelt. Manchmal sei als erste Seite eines Vorgangs auch ein Zeitungsbericht aus der Welt oder der FAZ eingeheftet worden, wenn die Presse über einen Getöteten an der Grenze berichtet hatte, erklärt Hans-Jürgen Grasemann. Im Fall von Johannes Lange waren es in erster Linie die Ermittlungen der Westberliner Polizei, die eine Akte füllten. Die Beamten hatten die Einschüsse auf der Westseite dokumentiert und Zeugen befragt. Man wusste damals nur nicht, wer die Schützen waren und den Namen des Toten kannte man auch nicht. Erst als die Grenze fiel, konnten alle Informationen zusammengeführt werden. „Dann wussten wir auch, wie viele Schüsse jeder einzelne Soldat abgefeuert hatte“, sagt Hans-Jürgen Grasemann. Die Stasi hatte alles haarklein dokumentiert. Sie wollten immer herausfinden, wo noch ein Fehler im System war.
1998 verhandelte das Berliner Landgericht den Fall. Einer der Schützen wurde wegen versuchten Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Er war zum Zeitpunkt der Tat, 1969, erst 19 Jahre alt.
Damit war der Fall abgeschlossen. Auch für die Erfassungsstelle in Salzgitter.
Viele hatten sich in den Jahren zuvor gewünscht, dass es nicht soweit kommen möge. Seit 1980 forderte Erich Honecker nicht nur die Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und die Elbgrenze an der Strommitte festzustellen, sondern auch die Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter. „Wir waren nicht nur Buchhalter der Verbrechen“, sagt Hans-Jürgen Grasemann. „Wir waren das schlechte Gewissen der DDR und Symbol für die Abnormität in Deutschland.“
Als die Erfassungsstelle Ende der 80er Jahre die Öffentlichkeitsarbeit verstärkte und Hans-Jürgen Grasemann in den Medien auftrat, gab es erneute Reaktionen aus der DDR. „DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler war der Meinung, da kommen wieder die Gräuelmärchen aus Salzgitter“, erzählt der Oberstaatsanwalt. „Aber wir wussten es damals schon besser.“
Aber auch Westpolitiker stimmten in diesen Chor mit ein. Noch 1984 stellte die SPD-Bundestagsfraktion in einem einstimmigen Beschluss fest: „Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter ist wirkungslos und überflüssig.“ Auch der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Gerhardt meinte 1986, es würden zwar in der DDR noch Verbrechen gegen die Menschlichkeit passieren, aber wie sollte man diese denn je bestrafen. Man wollte sich mit der DDR arrangieren. Erst nach der Wende räumten Politiker wie Hans-Jochen Vogel ein, es sei ein Fehler gewesen, die Abschaffung Salzgitters gefordert zu haben.
1990 endete die Erfassungstätigkeit und die Akten standen danach den zuständigen Behörden zur Verfügung. Heute sind alle strafrechtlichen Verfahren abgeschlossen und die Akten lagern seit 2007 im Bundesarchiv in Koblenz. „Am Pfingstanger 2“ erinnert nichts mehr an die einstige Zentrale. Jetzt befindet sich in dem Gebäude nur noch eine Polizeidienststelle, die hier damals schon parallel untergebracht war. Alexander Hofmann, der gerade in der Wache arbeitet, weiß gar nicht, was die Erfassungsstelle war. Sein Kollege Hans-Jürgen Bergmeier war schon vor 15 Jahren hier und erinnert sich noch daran, wie dort oben in einem Flur gearbeitet wurde. „Wir hatten hier unten auch einen Alarm, der die Tür zur Erfassungsstelle sicherte“, sagt Hans-Jürgen Bergmeier.
Die Stadt Salzgitter will dieses Jahr dafür sorgen, dass die Erfassungsstelle nicht in Vergessenheit gerät. Jörg Leuschner, Leiter des Kulturamts, berichtet, man habe ein Stück Mauer gekauft, das zusammen mit einer gusseisernen Tafel vor Ort aufgestellt werden und an die Arbeit der Erfassungsstelle erinnern soll. „Salzgitter war für viele ein Ort der Hoffnung“, sagt Jörg Leuschner. „Wir wollen stärker ins Bewusstsein rücken, wofür die Erfassungsstelle überhaupt stand.“ Aber die Nachhilfe ist wohl vor allem bei Menschen aus den alten Bundesländern angebracht. Besucher aus der thüringischen Partnerstadt Gotha fragen oft nach der Erfassungsstelle, erzählt Jörg Leuschner. Ihnen muss man nichts erklären.
Für manchen bedeutete Salzgitter auch, endlich seinen inneren Frieden machen zu können. Hans-Jürgen Grasemann erzählt, er habe schon im November 1989 in einem Radiointerview gesagt, man werde sicher bald ehemalige Häftlinge rehabilitieren können, die aufgrund von unrechtmäßigen, politischen Urteilen ins Gefängnis kamen. Kurz darauf erreichte ihn der Brief eines 85-Jährigen, der schrieb, er habe bei dem Interview weinen müssen. „Er wollte kein Geld, sondern nur diese Rehabilitations-Urkunde“, sagt Hans-Jürgen Grasemann. „Seine Kinder sollten wissen, dass er zwar fünf Jahre in Bautzen saß, aber kein Verbrecher war.“

 

 

ddp, Mai 2009