Jugendliche nicht nur wegsperren

Der Leiter des Jugenddorfs zur aktuellen politischen Diskussion
und seinen Erfahrungen in Birkelbach

ERNDTEBRÜCK. (wp) Wie benachteiligte Jugendliche aufgefangen werden können, bevor sie straffällig geworden sind, und welchen Ansatz das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands e.V. (CJD) in Birkelbach verfolgt, erzählt der Leiter Reinhardt Seber.

Frage:  Herr Seber, was halten Sie von der aktuellen Diskussion über kriminelle Jugendliche?
Reinhardt Seber: Was mich an der ganzen Sache besonders irritiert, ist, dass sich die Leute besser informieren sollten, bevor sie reden. Man muss mit den Jugendlichen neue Wege in der Pädagogik gehen und sollte sie nicht einfach nur wegsperren. Ich finde eine Richtung, wie sie in Creglingen praktiziert wird, grundsätzlich richtig. Der CJD Creglingen hat ein Modellprojekt, das Jugendstrafvollzug in freien Formen in einer Jugendhilfeeinrichtung leistet.

Frage:  Was ist für Sie das psychologische Problem, wenn ein junger Mensch ins Gefängnis gesteckt wird?
Seber: Das hat etwas von Rache. Wenn ein Mensch böse ist, dann muss er dafür büßen, scheint der Ansatz zu sein. Natürlich bin auch ich nicht immer bei meiner Arbeit gelassen. Aber bei einem 16-Jährigen muss ich doch das Ziel verfolgen, dass er sich auch noch die nächsten 60 Jahre in die Gesellschaft einfügt. Ich muss versuchen, bei ihm etwas aufzubauen. Durch den Aspekt der Rache wird er dagegen vielleicht immer wieder straffällig. Und das kostet den Staat Geld.

Frage:  Greift die momentane Diskussion denn überhaupt ein neues, akutes Thema auf?
Seber: Nein. Die mediale Präsenz der Probleme hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Politik immer schneller reagiert. Dabei kommt es auch zu unüberlegten Handlungen. Wäre der Fall in der Münchener U-Bahn nicht gefilmt worden, hätten wir vielleicht die Diskussion gar nicht.

Frage:  Aber gibt es darüberhinaus nicht auch ein gesamtgesellschaftliches Problem?
Seber: Gewisse moralische Grundregeln sind nicht mehr in der Gesellschaft verankert. Unter Jugendlichen ist "Verpiss dich!" ein halbwegs normaler Ausdruck. Wenn das einer zu mir sagt, ist das jedoch inaktzeptabel. Anstatt Kommunikation gibt es also oft nur noch eine Konfrontation. Es muss wieder ein Kontext von Sprache und Regeln gefunden werden, damit die Gesellschaft funktioniert.

Frage:  Und ein junger Mensch braucht Perspektiven.
Seber: Ja. Wenn jemand nicht mit einem Job etwas darstellen kann, sucht sich der Geltungsdrang eben manchmal einen anderen Ausweg, indem er zum Beispiel gewalttätig wird.

Frage:  Wann kommt ein Jugendlicher in Ihre Einrichtung?
Seber: Wenn er jemandem durch sein Verhalten aufgefallen ist. Den Lehrern, den Eltern. Dann schaltet sich das Jugendamt, der Regionale Sozialdienst (RSD), ein und schaut ihn sich an. Es gibt je nach Bedarf die Möglichkeit der ambulanten Familienhilfe, bei der ein Mitarbeiter die Familie zwei Stunden pro Woche besucht. Wenn danach immer noch Gefahr für das Kind besteht, kann es mit Zustimmung der Eltern in eine Einrichtung wie unsere oder zu Pflegeeltern kommen. Wenn die Eltern dazu nicht bereit sind, kann ein Richter auch eine Inobhutnahme entscheiden.

Frage:  Wie arbeiten Sie dann mit den Jugendlichen?
Seber: Die Jugendlichen sind bei uns unter anderem in berufsvorbereitenden Maßnahmen. In Zusammenarbeit mit Firmen organisieren wir auch Ausbildungen. Außerdem haben wir eine Mädchengruppe, die ursprünglich für Opfer von Missbrauch gedacht war, in der sich heute aber Mädchen mit verschiedenen sozialen Hintergründen finden. Ziel ist immer eine Rückführung in die Familie oder eine Verselbstständigung der Jugendlichen. Wir wollen eine zeitlich begrenzte Förderung leisten, eine Familie können wir nicht ersetzen.

 

HINTERGRUND

Mit Erlebnis- und Tierpädagogik

CJD betreut in Birkelbach seit 1991 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche

BIRKELBACH. (tim) Durch die Medien geht seit einigen Wochen das Thema Jugendkriminalität. Hessens Ministerpräsident schlug jetzt auch vor, Kinder unter 14 Jahren in Einzelfällen nach Jugendstrafrecht zu verurteilen. Wissenschaftler, Richter, Staatsanwälte und Praktiker reagierten mit einer Resolution gegen härtere Jugendstrafen.
Das Christliche Jugenddorf Deutschlands e.V. (CJD) Siegen-Wittgenstein ist seit 1991 auf dem ehemaligen Gelände der Hausfrauenschule des Reifensteiner Verbandes in Erndtebrück angesiedelt. Hier werden Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, Jugendlichen und junge Erwachsenen im Alter zwischen 2 und 23 Jahren aufgearbeitet. Dabei kommt zum Beispiel Erlebnis- und Tierpädagogik zum Einsatz und es wird Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes genommen. Der CJD organisiert auch Hausaufgabenunterstützung und hilft bei der Freizeitgestaltung. Außerdem werden in Erndtebrück Jugendliche auf die Arbeitswelt vorbereitet.
42 junge Menschen sind zur Zeit in Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit in berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen beschäftigt und lernen die Inhalte des ersten Ausbildungsjahres auf den Gebieten Verkauf, Metall oder Lager/Handel. Im letzten Jahr konnten über 90 Prozent der Teilnehmer in eine Ausbildung vermittelt werden. Ein Werkstattjahr absolvieren momentan 17 Jugendliche. Dort haben sie auch die Möglichkeit, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen.
Die Finanzierung erfolgt aus Mitteln über das Land NRW und des Europäischen Sozialfonds (ESF). Das CJD Siegen Wittgenstein betreut auch Kinder und Jugendliche in verschiedenen Tages- und Wohngruppen und fünf Familien werden durch Hausbesuche von Mitarbeitern unterstützt. Darüber hinaus leben in der Einrichtung 18 Aussiedler, die ins Internat Birkelbach gehen.
Bundesweit bietet der CJD jährlich 150 000 jungen und erwachsenen Menschen Orientierung. Sie werden von 8 000 Mitarbeitern an über 150 Standorten gefördert, begleitet und ausgebildet.

Spricht sich dafür aus, den Aspekt der Rache bei
straffälligen Jugendlichen nicht in den Vordergrund zu stellen:
der Leiter des Birkelbacher Jugenddorfs, Reinhardt Seber.
Foto: Tim Meyer



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© Westfalenpost, 16. Januar 2008