Ein Leben mit Regeln
und neuen Freunden


Julia Löffler lebt jetzt im Internat
und will das Abitur schaffen

BAD LAASPHE. (wp) Über ihrem Bett wacht Bushido - herausgerissen aus irgendeinem Jugendmagazin. Daneben Bilder von Nicole Scherzinger und Ashley Tisdale. Koordinaten eines 15-jährigen Mädchens. Nur die pink-schwarze Playboy-Bunny-Bettwäsche wirkt deplatziert.
Julia Löffler setzt sich auf ihren Schreibtisch und schaut zwischendurch aus dem offenen Fenster. Vor dem Gebäude sitzen ihre Freunde in der Sonne - reden, hören Musik. Sie ist seit drei Wochen im Internat Schloss Wittgenstein, aber hier oben in ihrem Zimmer ist sie fast nie, wenn die anderen draußen sind.
"Zuerst war es komisch, weil ich niemanden kannte", sagt Julia. Sie musste ihre besten Freunde zurücklassen und teilt sich jetzt ihr Zimmer mit einer Mitschülerin. Das Telefon und die Wochenenden müssen für ihr altes Leben ausreichen. In den ersten Tagen kamen aber sofort zwei Mädchen auf sie zu und zeigten ihr alles. Das half dabei, richtig anzukommen. "Jetzt finde ich es wirklich cool. Es ist ein Mischmasch aus Aufregung und überschüssiger Energie", versucht Julia zu beschreiben. "Ich will rennen und fliegen."

 Internat als Reißleine

Nur das Rauchverbot findet sie nicht so toll. Sie halte sich daran, aber einmal wurde sie von der Internatsleiterin erwischt. Da kürzte Margitta Jähne ihr das wöchentliche Taschengeld von 8 auf 5,50 Euro.
Julia kommt aus Stuttgart. Der Wechsel ins Internat ist ihre Reißleine, eine neue Chance. In der alten Schule wollte sich ihr Fallschirm einfach nicht öffnen. Die Entscheidung, ins Internat zu gehen, hat sie selbst getroffen.
Sie nimmt einen Schlüssel, schließt einen Schrank auf und greift ganz tief hinein. In ihrem schmalen Zeugnisheft zeigt sie auf die Lateinnote: "Ich muss von dieser Fünf und von der Fünf in Italienisch runter." Zu Hause hätte sie die neunte Klasse wahrscheinlich nicht geschafft und wäre in die achte Klasse gekommen, weil an ihrer Schule der achtjährige gymnasiale Ausbildungsgang (G 8) eingeführt wird.
Wenn sie in diesem Jahr die Neunte auch im Internat nicht abschließen kann, darf sie zumindest die gleiche Klasse wiederholen. "Aber ich will das schaffen", sagt sie und schaut raus. An ihrer alten Schule kam sie nicht mehr voran, weil unter dem Lernstress für die beiden Sprachen auch die anderen Fächer litten und sie mit den Lehrern nicht zurecht kam. "Die Mathelehrerin hat mal gesagt: 'Es ist mir scheißegal, ob ihr etwas lernt, ich bekomme mein Geld trotzdem'", erzählt Julia. "Hier sind die Lehrer engagiert und sie wollen einem wirklich etwas beibringen."
Aber nicht nur die Lehrer sagen dem Mädchen im Internat, was sie tun hat, sondern auch die Erzieher. So hätten vorher nur ihre Eltern mit ihr gesprochen, meint Julia.
Im Internat gibt es feste Regeln, die müssen durchgesetzt werden. Beim Essen müssen die Schüler so lange sitzen bleiben, bis alle aufgegessen haben oder der Erzieher sagt, dass sie aufstehen können. Und wer in die Stadt gehen will, muss sich abmelden. Das findet Julia ein bisschen blöd, aber sie kann es verstehen.
Aber jetzt muss sie in den Pferdestall. Ein eigenes Pferd hat sie nicht, kümmert sich aber um die internatseigenen Tiere mit. Heute muss sie Geneva ausreiten. Das Pferd ist auf einer Seite mit einer ordentlichen Schlammschicht bedeckt. "Gene Mäuschen, willst du mich verarschen", sagt sie zu dem Pferd als ihr der Staub beim ersten Striegelstrich ins Gesicht fliegt. Aber das scheint sie nicht zu stören.

 Reiz der Ungewissheit

Das Pferd überragt das Mädchen deutlich und legt manchmal die Ohren an, wenn Julia an unangenehmen Stellen putzt. Natürlich habe sie ein bisschen Angst, weil sie das Tier nicht kenne. Aber so wie sie über den Bauch des Pferdes striegelt, ist nichts von dieser Angst zu spüren. Vielleicht ist es auch diese leise Ungewissheit, die sie reizt. Das Reiten fasziniere sie, weil man es nie perfekt beherrsche, erklärt Julia. "Das Pferd ist ja ein Lebewesen und kein Fahrrad." Die Tiere seien eigen, selbst wenn man einmal Vertrauen aufgebaut hat.
Manchmal kann es mit dem Vertrauen schnell gehen. Auch bei den Menschen. Seit drei Tagen hat Julia einen Freund im Internat. Sie lernten sich kennen, weil über sie getuschelt wurde. Und dann war er für sie da, als jetzt eine ihrer Freundinnen an Magersucht starb. Sie erzählt das fast ein bisschen beiläufig. Vielleicht fühlt sie sich noch so, wie in dem Moment als sie die Nachricht bekam. "Ich habe gedacht: Scheiße, verarsch' mich nicht", erzählt Julia und in ihrem Gesicht ist zu sehen, dass sie gerade nicht weiß, ob sie lachen soll. "Ich hätte gerne noch einmal mit ihr gesprochen."
"Nichts ist für die Ewigkeit/ Und trotzdem bin ich mich am Fragen,/ warum Gott dich schon so früh aus meiner Leben reißt", rappt Bushido in "Dieser eine Wunsch". Ein Song, der vom Tod eines Freundes handelt. Julia mag dieses Lied.


HINTERGRUND

Erziehungsfunktion
wechselt ins Internat

Prof. Hans Werner Heymann im Gespräch Interview

SIEGEN. (wp) Hans Werner Heymann, Erziehungswissenschaftler und Professor für Schulpädagogik und Didaktik an der Universität Siegen, spricht im Interview darüber, welche Aspekte wichtig sind, damit sich ein Kind oder ein Jugendlicher in der Welt des Internats wohlfühlen kann.

Westfalenpost:  Was bedeutet es aus Ihrer Sicht, wenn ein Kind in ein Internat zieht?
Hans Werner Heymann: Es ist mit einer generellen Umorientierung konfrontiert. Das Elternhaus bekommt durch die Internatsumgebung einen geringeren Stellenwert, auch wenn es natürlich Internatsschüler gibt, die weiterhin sehr eng mit ihrem Elternhaus verbunden bleiben.

Frage:  Kommt es dadurch auch zu einer Bedeutungsverschiebung bei den Bezugspersonen?
Heymann: Die Erziehungsfunktion, die traditionell das Elternhaus übernimmt, wechselt weitgehend ins Internat. Dadurch wachsen auch die allgemeine Erziehung und das schulische Lernen stärker zusammen. Für Kinder aus schwierigen Verhältnissen kann es durchaus von Vorteil sein, wenn Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gebündelt werden.

Frage:  Aber können Erzieher eines Internats die Eltern ersetzen?
Heymann: Gute Eltern geben ihren Kindern Wärme, Geborgenheit und Respekt. Emotionale Leistungen dieser Art können die Erzieher nicht einfach übernehmen. Eine stärkere Bedeutung in dieser Hinsicht bekommt die Gruppe der Gleichaltrigen. Weil die Kinder Schule und Freizeit miteinander verbringen, kann es hier zu sehr intensiven Kontakten kommen. Auf der anderen Seite wird es für ein Kind natürlich sehr schwer, wenn es keinen Anschluss an die Gleichaltrigen findet.

Frage:  Die Eltern oder das Kind selbst entscheiden sich meist für ein Internat, wenn die schulischen Leistungen schlecht werden. Ist das Internat hier der richtige Ansatz?
Heymann: Das Internat ist ein Begrenzungsraum, in dem das Kind von vielen Medien- und Freizeitangeboten abgeschirmt ist. Das kann für schulische Leistungen und Konzentration förderlich sein. Wichtig ist aber, dass der soziale Aspekt stimmt. In der Selbstbestimmungstheorie der Motivation gehen die Wissenschaftler Edward Deci und Richard Ryan von drei Grundbedürfnisse aus, die für die Entwicklung und das Wohlbefinden eines Menschen wichtig sind: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Wenn ein Internat etwa ein strenges Regelwerk hat, kommt möglicherweise die Autonomie zu kurz. Die soziale Eingebundenheit kann auf der anderen Seite durch den engen Kontakt mit Gleichaltrigen sehr stark empfunden werden.

Frage:  Welchen Charakterzug sollte ein Kind denn grundsätzlich mitbringen, um sich im Internat wohlfühlen zu können?
Heymann: Kinder mit ausgeprägtem sozialen Anschlussvermögen können sich wahrscheinlich in einem Internat besser orientieren. Wer aber nur zu den Erziehern einen engen Kontakt aufbauen kann und von der Gruppe der Gleichaltrigen isoliert bleibt, könnte sich im Internat eher eingesperrt fühlen.

Zurück zur Übersicht

 

 



Für Julia Löffler war es neu, dass die Erzieher im Internat
so mit ihr sprechen, wie es vorher nur ihre Eltern getan haben.
Fünf Tage in der Woche lebt und lernt Julia Löffler jetzt
weit von zu Hause entfernt.
Fotos: Tim Meyer

 


Artikel als PDF-Datei

© Westfalenpost, 23. Februar 2008