Unabhängigkeit behalten

Yvonne Zoll will ganz für ihr Kind da sein und sich selbst nicht verlieren

ARFELD. (wp) Auf der Treppe liegt ein Brief - Yvonne Zoll reißt ihn auf. Es ist eine Nachricht vom Arbeitsamt über das Kindergeld. "Es ist viel Papierkram zu erledigen", sagt sie und atmet tief durch. Am 10. Januar kam ihr Sohn Christian zur Welt.
Yvonne Zoll nimmt den Säugling aus dem Bett und legt ihn im Wohnzimmer in den Laufstall. Dabei schaut sie ihn so an, wie wohl auch in dem Moment nach der Geburt: "Es fühlte sich an wie ein Wunder, als er aus mir herausgekommen war, auf meinem Bauch lag und mich anschaute."
Weil er jetzt aber wach ist, will er auch beschäftigt werden. Sie nimmt ihn auf den Arm, streichelt über Wangen und Nase. Zweimal niest er. Christian ist aber nicht erkältet. Er hat vorhin beim Trinken etwas Milch in die Nase bekommen, weil die Verbindung zum Mund noch zu durchlässig ist.
Eine Erkältung musste die junge Mutter aber schon durchstehen. Stündlich wachte sie in dieser Nacht auf, weil ihr Kind Atembeschwerden hatte. "Ich hatte gelesen, dass ein Schnupfen lebensgefährlich sein kann", sagt die 29-Jährige. Am nächsten Tag gab es Kochsalz-Nasentropfen von der Kinderärztin und bald war die Sache überstanden.
"Die Zeit, die ich heute mit meinem Kind verbringe, habe ich früher als Lehrerin gearbeitet", sagt Yvonne Zoll. Sie unterrichtete am Gymnasium in Winterberg Deutsch und Geschichte. In einem Jahr will sie dort wieder vor den Schülern stehen. Vorübergehend hält sie über die Kollegen den Kontakt zur Schule und wenn alles klappt, fährt sie auch bald wieder zu den Konferenzen. Sie will den Anschluss nicht verlieren.

Für Christian leben

Der Moment, wenn der Funke bei einem Schüler überspringt und sich der Durst nach Wissen verselbstständigt, sei das besondere an ihrem Beruf. Dafür hat sie gelebt.
Jetzt lebt sie für Christian. Jetzt will sie ihm zuschauen, wie sich seine Persönlichkeit von Anfang an entwickelt. Dieses eine Jahr will sie ihr Leben komplett nach dem Kind ausrichten, sich erst für sich Zeit nehmen, wenn er zufrieden ist. "Zuerst hatte ich Angst, nicht mehr ich selbst sein zu können, mich zu verändern. Aber so ist es nicht gekommen." Trotzdem dauerte es, sich an das neue Leben als Mutter zu gewöhnen. Aus dem Umfeld kamen viele Ratschläge, die sich manchmal widersprachen. "Ich war leicht zu beeinflussen", sagt Yvonne Zoll. Bücher und Internetforen halfen ihr dabei, einen eigenen Weg zu finden. "Ich bin eben sehr verkopft."
"Man muss ein Kind auch schreien lassen. Das kräftigt die Lungen." Diesen Rat will Yvonne Zoll ganz sicher nicht befolgen. Das Kind schreie im ersten halben Jahr nicht, um etwas erreichen zu wollen, sondern weil es sich aus irgendeinem Grund unwohl fühle. "Ich will dann für mein Kind da sein, damit es Vertrauen in mich und die Welt bekommt", sagt die Mutter. "Wenn es dieses Urvertrauen hat, kann es sich zu einem selbstbewussten Menschen entwickeln."
Christian will aber gerade nicht beweisen, dass er schon kräftige Lungen hat. Er schweigt und schläft. Yvonne Zoll trägt ihn in sein Kinderzimmer und legt ihn ins Bett. Bevor sie das Zimmer verlässt, stellt sie den "AngelCare" an. Nicht nur ein einfaches Babyfon - das Gerät ist mit einer Sensormatte unter dem Laken verbunden und misst die Herzfrequenz. Registriert es eine Abweichung, schlägt ein Warnton an. Das soll helfen, den plötzlichen Kindstod zu verhindern.
Mutterschaft ist eben ein 24-Stunden-Betrieb mit ständiger Beobachtung. Momentan muss Yvonne Zoll etwa alle zwei Stunden stillen. Dem Kind ist es egal, ob gerade Nacht ist und sich die Mutter in ihrer ersten Tiefschlafphase befindet. Und weil meist auf den Genuss ein Geschäft folgt, ist fast nie Ruhe. Während des Tages ist Multitasking gefragt. "Wenn ich ihm eine Brust gebe, kann ich auch mein Frühstück vorbereiten."

Nicht nur Mutter sein

Einmal hat sie es aber schon geschafft, Christian zwei Stunden bei ihrer Mutter alleine zu lassen. Sie drückte der Oma Fläschchen mit abgepumpter Milch in die Hand und ging zum Frisör. Als das Handy aber auch nach einer Stunde noch nicht klingelte, rief die junge Mutter zu Hause an und fragte nach, ob alles in Ordnung ist. Trotzdem hat sie die Auszeit genossen. "Ich konnte mal wieder nicht nur Mutter sein."
Ihre Staatsarbeit hat Yvonne Zoll über Frauen in den 80er und 90er Jahren geschrieben, die sich an Universitäten etablieren wollten. Eigentlich hatte sie auch geplant, in ihrer Elternzeit die Forschung mit einer Promotion fortzusetzen, aber das sei vorerst kein Thema mehr. "Vielleicht habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zu meiner neuen Rolle, weil ich mich mit dieser Geschlechtergeschichte beschäftigt habe", versucht sie zu erklären. "Ich dachte, ich gebe mit dem Kind meine Freiheit auf."
Zwei Stunden würde Yvonne Zoll gerne aus ihrem Leben streichen. "Am Morgen der Geburt machte die Gebärmutter schlapp und ich musste zwei Stunden ohne Wehen pressen", erzählt sie. "Das war sehr schmerzhaft." Sie weiß nicht mehr, was sie in diesem Moment alles gesagt hat. Aber schön sei es sicherlich nicht gewesen. Im Kreißsaal ist niemand mehr zurechnungsfähig. Zwei Espresso halfen ihr, wach zu bleiben. Am Ende musste der Arzt noch einen kleinen Schnitt machen, damit sich Christian auf die Welt kämpfen konnte. Um 6.59 Uhr begann sein Leben. Und ein neues für Yvonne Zoll.


HINTERGRUND

Erst in der letzten Phase
hilft auch ein Arzt


Andrea Winter spricht über ihre Aufgaben als Hebamme

BAD BERLEBURG. (wp) Andrea Winter begleitete Yvonne Zoll während ihrer Schwangerschaft. Im Gespräch erzählt die Hebamme, was vor der Geburt zu bedenken ist und worüber Eltern bei heute möglichen Voruntersuchungen nachdenken sollten.

Westfalenpost:  Wann ist aus Ihrer Sicht eine Frau bereit für ein Kind?
Andrea Winter: Wenn sie sich Nachwuchs wünscht und in einer festen Partnerschaft lebt. Aber die meisten Paare planen die Schwangerschaft ja nicht unbedingt.

Frage:  Was sagen Sie zu einer Frau, wenn sie beim ersten Gespräch Zweifel äußert?
Winter: Ich mache ihr Mut und sage, dass ich ihr die Schwangerschaft zutraue. Ich zeige ihr aber auch, an welche Stellen sie sich wenden kann, wenn sie etwa finanzielle Sorgen hat oder noch eine weitere Meinung hören möchten.

Frage:  Welche Stellen sind das?
Winter: Die Kirchen helfen mit der Schwangerschaftskonfliktberatung nicht nur bei Fragen zum Schwangerschaftsabbruch weiter. Außerdem beraten regionale soziale Dienste und Familienhebammen im Vorfeld. Ich mache auch gerade die Zusatzausbildung zur Familienhebamme und kann anschließend Frauen bis zu einem Jahr nach der Geburt begleiten. Der Tod von vernachlässigten Kindern wäre sicherlich in einigen Fällen zu verhindern gewesen, wenn die Frauen besser betreut worden wären.

Frage:  Wie sehen Ihre Aufgaben aus, wenn Sie die Betreuung einer Schwangerschaft übernehmen?
Winter: Ich arbeite als freiberufliche Hebamme und begleite Geburten als Beleghebamme im Krankenhaus. Wenn ich die Betreuung einer Schwangeren übernehme, treffen wir uns bis zur 32. Woche alle vier Wochen zu Vorsorgeuntersuchungen. Danach alle zwei Wochen und ab dem errechneten Termin alle zwei Tage. Der Geburtsvorbereitungskursus beginnt etwa ab der 25. Woche. Nach der Geburt stehe ich den Müttern acht Wochen zur Verfügung, die ersten zehn Tage täglich. Aber es sind auch noch weitere Termine in der gesamten Stillzeit möglich.

Frage:  Was machen Sie in dem Geburtsvorbereitungskursus?
Winter: In erster Linie erkläre ich viel und wir gehen alle Phasen der Schwangerschaft und Geburt durch. Wir machen auch Atem- und Entspannungsübungen, überlegen und erarbeiten uns mögliche Geburtspositionen. Ich beantworte auch Fragen zur Pflege und Ernährung des Kindes.

Frage:  Gibt es auch Themen, über die Sie länger reden?
Winter: Ich finde es sehr wichtig, die Frauen über die Pränataldiagnostik aufzuklären. Was sie vor der Geburt schon über den Gesundheitszustand ihres Kindes erfahren können. Wenn eine Frau etwa meint, sie möchte kein behindertes Kind mit Down-Syndrom haben, dann respektiere ich das. Meine Aufgabe ist es, die Frauen zu begleiten. Wichtig ist aber auch bei anderen Diagnosen, dass die Ärzte aufklären, was die Ergebnisse bedeuten. Darauf achte ich.

Frage:  Arbeiten Sie auch mit Ärzten zusammen?
Winter: Wir arbeiten nicht direkt zusammen, aber die Kommunikation untereinander ist hier sehr gut. Ich empfehle meinen Frauen auch, die Vorsorgeuntersuchungen im Wechsel bei mir und dem betreuenden Arzt zu machen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Und Ultra-Schall-Untersuchungen kann zum Beispiel nur der Arzt machen.

Frage:  Was ist schließlich bei der Geburt ihre Aufgabe als Hebamme?
Winter: Die Aufgabe einer Hebamme ist die Betreuung und Begleitung einer normalen Geburt. Der Arzt kommt während der letzten Phase in den Kreißsaal. Zum Geburtsprozess wird er nur dann hinzugezogen, wenn zum Beispiel eine Wehenschwäche auftritt oder sich die Herztöne des Kindes verändern. Die Partner der Frauen sind meistens während der ganzen Geburt dabei. Sie können die Frau halten oder auch massieren. Aber oft muss ich denen noch erklären, dass sie die Hebamme nicht ersetzen müssen.

Frage:  Und was passiert nach der Geburt?
Winter: Als Hebamme mache ich die U1, die erste Unterschung und vermesse das Kind. Weil der Säugling auch gleich Hunger hat, probieren wir auch das Stillen sofort aus.

Frage:  Yvonne Zoll war sehr glücklich, dass sie Ihr zum Stillen geraten haben. Warum empfehlen Sie den Frauen das?
Winter: Es ist einfach die natürliche Ernährung, die vom Körper direkt auf den Säugling angepasst ist. Auch wenn die Firmen viel forschen, ist die künstliche Milch immer nur ein Ersatz. Ich bekomme auch oft mit, dass Frauen verunsichert sind, weil ihre Mütter nicht gestillt haben und sie auch sonst viele verschiedene Meinungen hören. Ich sage den Frauen immer, dass es keine Regeln gibt und sie es einfach ausprobieren sollten.

Frage:  Ist der Mann nicht eigentlich immer im Nachteil, wenn es um die Nähe zum Kind geht?
Winter: Im Krankenhaus gibt es zum Beispiel ein Familienzimmer, in dem auch der Mann unterkommen kann, wenn die Geburt nicht nur ambulant gemacht wird. Außerdem sage ich den Männern, sie sollen sich ums Baden kümmern. Das bleibt dann meist ihr Sonntagsjob.

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"Es fühlte sich an wie ein Wunder, als er aus mir herausgekommen war,
auf meinem Bauch lag und mich anschaute."


Hebamme Andrea Winter begleitete Yvonne Zoll.
Fotos: Tim Meyer




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© Westfalenpost, 8. März 2008