Katastrophe im Mondschein

Wilhelm Hennemann erinnert sich an die Nacht, als die Flutwelle 17 Menschen das Leben nahm

Ein Rauschen, ein Röhren.  An dieses Geräusch können sich alle noch erinnern. Und wie hell diese Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 war, als 19 britische Flugzeuge Angriffe auf vier Talsperren flogen. In Halingen starben 17 Menschen, nachdem eine Bombe die Möhnetalsperre zerstört hatte.
Wilhelm Hennemann wurde in dieser Nacht von seiner Mutter geweckt. Er solle schnell aufstehen, sie hätten die Möhne getroffen. Der erste Gedanke der Familie galt den Kühen auf der Weide, die direkt an der Ruhr lag. „Aber wir hatten alle keine Ahnung, was da auf uns zukam", erinnert sich der 83-Jährige.

„Am Anfang hörte man überall
noch Schreie, später war alles ruhig."
Wilhelm Hennemann

Von ihrem Haus in Halingen lief er Richtung Provinzialstraße, traf dort seinen Vater und Bauer Heinrich Ammelt mit seinem Sohn Engelbert. Die beiden Jungs rannten vor, als sie schon das Rauschen hörten. Gemeinsam mit ihren Vätern packten sie die Tiere und machten sich schnell auf den Rückweg. Dabei begegneten ihnen viele Menschen, die in dieser Nacht noch sterben sollten.
Auch Josefine Gödde sah Wilhelm Hennemann noch. Sie stand mit drei ihrer Kinder vor dem Haus — dort, wo die Provinzialstraße einen Knick macht. Ihr Mann war zu den Kühen gerannt. Wilhelm Hennemann hörte nicht, dass sie ihrer Schwester im Haus zurief: „Ich bringe die Kinder in Sicherheit." Sie wollten sich auf eine Anhöhe retten und konnten nicht wissen, dass im Haus der sichere Ort gewesen wäre. Ihre Schwester und zwei Kinder überlebten die Katastrophe im Haus.
In den Aufzeichnungen eines Lehrers der Halinger Schule heißt es, dass die Flutwelle gegen 3 Uhr Halingen erreichte: „Der weitaus größte Teil der Häuser liegt zwar hoch; jedoch wurden die Bewohner der neuen Häuser, welche im Ruhrtal bis zur Langscheder Ruhrbrücke liegen, schwer heimgesucht."
Die vier Männer brachten die Kühe bei Ammelts Hof in Sicherheit. Hundert Meter Vorsprung hatten sie vor der Welle, die später dort an Halingen heranschwappen sollte, wo heute die Neue Straße beginnt. „Am Anfang hörte man überall noch Schreie, später war alles ruhig", erzählt Wilhelm Hennemann. „Ich muss noch heute oft an diese Nacht denken. Das kann man nicht so einfach abschütteln."
Auch Pfarrer Heinrich Josephs hielt in der Chronik der Kirchengemeinde Halingen die Katastrophe fest: „Was hatte doch diese Nacht, nein, diese wenigen Stunden nach Mitternacht ein unsägliches Elend über so manches Haus und Familie gebracht!"
Langsam ging das Wasser in den nächsten Stunden zurück. Wer die Katastrophe überlebt hatte, begann sein Leben zu sortieren. Aber das Unglück wurde auch für Parteipropaganda genutzt. So stand am 25. Mai 1943 in einer Mendener Zeitung: „Diese ruchlose Tat wird jedoch nichts an der entschlossenen Haltung der leidgeprüften Familien ändern und ihren Willen nicht erschüttern, auszuhalten und zu kämpfen bis der Endsieg errungen ist, und jetzt im Unglück nun erst recht."
Helmuth Euler dokumentiert in seinem Buch „Wasserkrieg" eine Todesanzeige, die am 27. Mai 1943 ebenfalls in einer Mendener Zeitung erschien. Dort wird der Tod einer 15-köpfigen Familie genannt, die es jedoch nie gegeben habe. Die Menschen dachten wohl doch nicht in erster Linie an den Feind. „Die fingierte Anzeige sollte die Verheimlichung der Auswirkungen der Katastrophe durch die Machthaber entlarven. Widerstand in der Lokalpresse", schreibt der Autor.

 

Das Augenzeugen-Archiv

Helmuth Euler sammelt alles über die Möhnekatastrophe

Helmuth Euler war neun Jahre alt, als er mit seinem Vater auf der Straße in Werl stand — Fliegeralarm. Aber es passierte zuerst nichts. „Und dann hörten wir das wahnsinnige Rauschen", erinnert sich der 75-Jährige heute. Als es am nächsten Tag hell wurde, fuhr er mit dem Fahrrad bis Niederense und blickte auf ein Chaos — sogar ein Klavier hing in einem Baum. „Es sah so aus, wie man es aus dem Fernsehen bei Katastrophen kennt."
Von diesem Zeitpunkt an faszinierten Helmuth Euler die Ereignisse dieser Nacht, und als er älter war, begann er alles zu sammeln, was er bekommen konnte. Seinen ersten Augenzeugenbericht nahm er Ende der 50er Jahre von einem britischen Radiosender auf. Er sah auch den Film „The Dam Busters" und tauchte immer tiefer in das Thema ein. „Ich wollte die Wahrheit herausfinden."
Er sammelte Dokumente und Fotos, zeichnete mit einer 16-mm-Kamera und Tonband Augenzeugenberichte auf und besuchte den Erfinder der Rollbomben, Barnes Wallis. Aus seinem Material entstand bis 1973 ein Film und zwei Jahre später erschien sein Buch „Als Deutschlands Dämme brachen — Die Wahrheit über die Bombardierung der Möhne-Eder-Sorpe-Staudämme 1943". 2001 erschien dieses Buch auch auf Englisch. Das bekam der Regisseur Peter Jackson („Herr der Ringe") in die Hände und besuchte Helmuth Euler vor zwei Jahren. Er plant ein Remake von „The Dam Busters".
Fünf Stunden erzählte der Experte dem Regisseur von seinen Forschungen und zeigte ihm das Archiv. Helmuth Euler berichtete ihm auch, wie Augenzeuge Wilhelm Strotkamp die Explosion der Bomben direkt am Möhnestaudamm wie ein Erdbeben erlebt hatte, bevor das Mittelstück der Sperrmauer komplett herausbrach. „Ich sagte zu Peter, diesen Moment musst du so machen, dass die Leute in der zehnten Reihe im Kino gleich nass sind."
Über 100 Augenzeugenberichte hat Helmuth Euler über die vergangenen 50 Jahre gesammelt und auch heute noch wollen ihm Menschen ihre Geschichte erzählen. „Das Thema ist ein Lebenswerk."

In Halingen suchen Frauen ihren Hausrat zusammen.
Viele Menschen kamen ums Leben, als sie versuchten, ihre Tiere zu retten.
Foto: Motorbuch Verlag

 

Wilhelm Hennemann kann
diese Nacht nicht vergessen.

 

Helmuth Euler mit Teilen seines Archivs. So ähnlich sah es auch aus,
als Peter Jackson den Forscher besuchte

Fotos: Tim Meyer

 

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© Westfalenpost, 15. September 2008