Hinter dichten Wolken
ist immer noch Sonne

Elsa Müller fiel nach der Scheidung von ihrem Mann in ein Loch und fand erst langsam mit ihrer Arbeit zu neuem Selbstbewusstsein

Als sie schnellen Schrittes an die Kasse tritt, lächelt sie breit. Ein kraftvolles Lächeln, das sie sich irgendwann einmal als Schutz zugelegt hat und das heute allein von Herzen kommt.
Ein Mädchen möchte einen Milchshake. „Habe ich dir heute schon Gummibärchen geschenkt?", fragt Elsa Müller. Die Kleine schüttelt den Kopf. Elsa Müller sucht nach diesen Situationen, in denen sie anderen Menschen eine Freude machen kann. Sie will etwas zurückgeben, seit sie selbst ihr Glück gefunden hat.
„Früher wusste ich gar nicht, was in mir steckt", sagt die 53-jährige Schichtführerin bei McDonald's. Sie konnte nicht auf Menschen zugehen. Dass sie Umgang mit Menschen braucht, merkte sie, als sie in der Mendener Bibliothek als Hilfskraft arbeitete. Vorher hatte sie in einer Fabrik Zinnbecher produziert. Soziale Fähigkeiten waren da nicht vorrangig gefragt. Metall sucht selten ein Gespräch.

 An Aufgaben wachsen

 Und immer wieder erwähnt Elsa Müller ihre Chefin Lilian Haas, die für verschiedene McDonald's-Filialen zuständig ist und sie gefördert hat. „Müllerchen, du schaffst das", habe Lilian Haas immer zu ihr gesagt, erzählt sie. „Sie hat erkannt, was in mir steckt." Elsa Müller nimmt das Klemmbrett mit dem „Operations Calendar" in die Hand und trägt die Kerntemperatur der Patties, der Fleischstücke, ein. „Jetzt muss ich noch drei Kassen abrechnen, dann habe ich Feierabend", sagt sie, verdreht die Augen und lächelt. Als Schichtführerin ist sie dafür zuständig, für Nachschub zu sorgen. Joghurt, Salate, Spielzeug oder Gummibärchen. Und die Gäste zu fragen, ob alles in Ordnung ist.
Sie fing als Küchenkraft an und wollte den Job eigentlich schon nach drei Tagen wieder hinschmeißen. „Ich dachte, ich schaffe das in meinem Alter nicht mehr." Die Arbeit in der Küche war anstrengend. Neue Aufgaben, eine unbekannte Abläufe. Das ist jetzt sechs Jahre her. Nach zwei Monaten kam sie an die Kasse, heute ist sie Schichtführerin. Und das Einzige, was sie an ihrem Job wirklich nervt, ist das Geräusch der Fritteuse, wenn die Pommes fertig sind.
„Wenn ich nach Hause komme, bin ich erledigt", sagt Elsa Müller, als sie sich in ihrer Wohnung aufs Sofa setzt. „Darf ich mir erst mal eine Zigarette anzünden?" Eigentlich mag sie es nicht, wenn sie direkt nach der Arbeit „vollgesülzt" wird. Auch ihr Freund muss sich dann zurückhalten. Oft nimmt sie sich einen Kopfhörer, schottet sich ab und lauscht ihrer Musik. Die Flippers, Andrea Berg.
Sie trägt noch ihre Dienstuniform. Weiße Bluse, graue Weste, graue Hose, schwarze Schuhe und ein grünes Halstuch. Überall stehen Plastiksonnenblumen und an der Wand hängt ein großes Bild: Über einem Strand türmen sich Wolkenberge auf und ein Leuchtturm schickt seinen Lichtstrahl in die Ferne. In den Wolken klafft ein Loch, durch das die Sonne zu erahnen ist. „Vielleicht sind das meine Urlaubsträume", sagt Elsa Müller. Vielleicht spiegelt das Bild aber auch eine Episode aus ihrem Leben, das sich verdunkelte, bevor sie wieder zu sich selbst fand.
In ihrer Drei-Zimmer-Wohnung lebt sie gemeinsam mit ihrem Freund Achim Lahmert, Hund Lucky und Nymphensittich Putzy. Ihre Küche haben sie günstig bei einem An- und Verkauf erstanden. Die beiden sind gerne auf Trödelmärkten unterwegs. „Ich brauche keine prunkvollen Sachen", erklärt Elsa Müller. „Ich bin mit dem zufrieden, was ich habe."
Achim Lahmert arbeitet in einer Fabrik in Iserlohn. Kennen gelernt haben sich die beiden vor eineinhalb Jahren im Internet-Chat. Nach ein paar Monaten telefonierten sie stundenlang, trafen sich und bald zog Achim Lahmert von Hannover nach Menden.
Elsa Müller steht vom Sofa auf und nimmt das eingerahmte Zertifikat von der Wand: „Shift Management Course". Diese bestandene Schichtleiter-Prüfung war einer der schönsten Tage in ihrem Leben. Eigentlich sagt sie, es war der schönste Tag. Mit 52 Jahren Schichtführerin bei McDonald's. Gebüffelt, gezweifelt, geschwitzt. Bestanden. „Ich war euphorisiert", sagt Elsa Müller. „Ich hatte mir das einfach nicht zugetraut, weil ich ja früher nichts gelernt hatte."

 Ein Jahr ganz unten

 Nach der neunten Klasse beendete Elsa Müller mit einem Hauptschulabschluss die Schule und fing an, in einer Rollschuhfabrik zu arbeiten. In ihrer Familie musste man früh auf eigenen Beinen stehen. Zu Hause waren sie zwölf Kinder — zehn Mädchen, zwei Jungs. „Wir haben uns gut verstanden", sagt Elsa Müller. „Aber es war manchmal anstrengend und es gab auch Kloppereien." Sie lacht. Ein kratzendes Lachen, das nach Leben klingt.
1976 heiratete Elsa Müller, bekam ein Jahr später einen Sohn und gab ihren Job auf. Später folgten zwei Töchter. 1994 zog sich schließlich der Himmel zu und es zerbrach etwas. Elsa Müller ließ sich von ihrem Mann scheiden. Ihre kleinste Tochter war damals drei Jahre alt und kam mit zu ihr. Das ältere Mädchen war 13 und konnte selbst entscheiden, zu wem es möchte. Es entschied sich für den Vater. „Ein Jahr fühlte ich mich ganz unten", sagt Elsa Müller. Sie gab sich die Schuld für die Trennung und wusste nicht weiter.
Wegen ihrer kleinen Tochter blieb Elsa Müller weiterhin zu Hause. Bis zu dem Tag, als sie spürte, dass sie jetzt etwas Neues anfangen muss. Dass sie an sich selbst denken muss, um sich wieder richtig ins Leben einzufinden. Also fing sie an, in der Dreherei zu arbeiten. Die Sonne kämpfte hinter den Wolken. Bibliothek, McDonald's. Und dann war die Sonne wieder zu sehen.
Heute ist sie angekommen. Die Wolken sind nur noch eine wichtige Erinnerung. Und ihr Lächeln braucht sie nicht mehr als Schutz. „Ich will gar nicht noch mehr", sagt sie. „Als Schichtführerin habe ich schon so viel erreicht."  



Fotos: Manuela Schwerte


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© Westfalenpost, 5. September 2008