Hubertus und der Schreibtisch-Stein
Hubertus Heil sitzt als SPD-Abgeordneter
für den Wahlkreis Peine/Gifhorn im Bundestag.
Was Opposition bedeutet,
hat der 32-jährige Nachwuchspolitiker in seiner Karriere bisher noch nicht
erlebt.
Gut kennt er dafür jene Grabenkämpfe, bei denen von Sachfragen
nichts mehr übrig bleibt.
Eine Festung aus Glas, Stahl und Beton am Spreeufer. Im siebten Stock
sitzt ein junger Mann hinter einem großen Holztisch. Schwarzer Anzug,
rotgestreifte Krawatte. Neben diversen Mappen und Tagesplänen stehen
drei Bilder auf dem Tisch. Ein privates Hochzeits- und ein Urlaubsbild,
sowie ein breit lachender Gerhard Schröder.
Neben den Bildern liegt ein blasser Stein. Mit ihm wollte eine Frau Anfang
2004 die Scheibe der Geschäftsstelle der SPD in Peine einwerfen.
Sie hat den Stein dann aber lieber drinnen abgegeben, weil den Dreck ja
die Sekretärinnen hätten wegmachen müssen. Die Beinahe-Täterin
war unzufrieden mit der Gesundheitsreform.
Hubertus Heil ist 32 Jahre alt und sitzt seit 1998 als Abgeordneter des
Wahlkreises Peine/Gifhorn für die SPD im Deutschen Bundestag. Er
wiegt den Stein in seiner Hand hin und her und sagt: "Irgendwann
möchte ich ihn der Frau zurückgeben, ohne dass sie noch Lust
hat, damit die Scheiben einzuwerfen."
Aber vielleicht kann Heil dieses Versprechen nun nicht mehr einhalten:
Jürgen Rüttgers hat der SPD und damit auch ihm einen Strich
durch die Rechnung gemacht. Der Wahlkampf steht an. Für Heil geht
es voraussichtlich ab dem 25. Juni richtig los. Dann werden ihn die Delegierten
aus Peine und Gifhorn wahrscheinlich wieder als Spitzenkandidaten nominieren.
Damit die SPD bei der Wahl eine Chance hat, muss sie Geschlossenheit finden.
Kritik am Koalitionspartner und am Bundespräsidenten seien nicht
hilfreich, findet Heil. Einige SPD-Abgeordnete "quatschen" vor
allem über die Gesamtsituation. "Die haben anscheinend alle
zu viel Zeit und sollten doch besser in ihren Wahlkreisen die Leute mobilisieren
und ein gutes Programm aufstellen." Heil ist ein Wahlkreispatriot
und tritt mit dem Slogan "Kraft für die Region" an.
März 2005, als es noch darum ging, die eigene Politik zu verteidigen
und nicht eine neue zu formulieren. Peine, 20 Uhr, Gewerkschaftshaus.
Etwas müde sitzt der Abgeordnete im Expertenpanel, macht sich Notizen
oder spielt mit seinem Brillengestell. Vor zwei Tagen hat die Bundesagentur
für Arbeit die neue Arbeitslosenstatistik herausgegeben. Die Zahl
der Erwerbslosen ist erstmals über die 5-Millionen-Grenze gestiegen.
Heil hört in Peine den Mitgliedern der Arbeitsloseninitiative zu.
Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger rechnet vor, was er mit den 345
Euro Grundversorgung jeden Monat anstellt: "Da hängt dir Mitte
des Monats der Magen durch!" Ob Heil selbst damit auskommen würde?
"Ich kann mir gut vorstellen, dass es schwierig ist, damit auszukommen",
antwortet Heil. Auf solche Fragen ist eine Antwort schwierig. Ein anderer
Mann erzählt aufgebracht davon, 35 Jahre in die Arbeitslosenversicherung
eingezahlt zu haben, und nach einem Jahr war dann wieder Schluss mit dem
Geld. Heil antwortet kühl, dass die Förderung auch nach einem
Jahr fortgesetzt werde. Nur sei es dann eben weniger Geld, weil es aus
dem steuerfinanzierten Topf käme und nicht aus der solidarischen
Arbeitslosenversicherung.
Manchmal ist es wie ein Spiel. Klare Linien der eigenen Überzeugung
zeichnen und Härte zeigen. Eigene Fehler und solche der Politik eingestehen.
Und immer Gesprächsbereitschaft signalisieren. "Jeder bekommt
von mir eine Antwort, aber ich verspreche nicht, dass sie ihm schmeckt",
wird Heil später sagen.
Heil ist 14 Jahre alt, als er zu den Jusos in Peine geht. Die älteren
Junggenossen halten ihn zuerst für einen Spitzel der Jungen Union,
weil er keinen Schlabberpulli, sondern ein Jackett trägt. Aber Heil
verschafft sich in Diskussionen Vertrauen und Respekt. Die Juso-Gruppe
in Peine sieht sich als ethische Reformsozialisten, das prägt Heil.
Hier wird nicht nur das Kapital verteufelt, man spricht auch über
Umwelt- und Friedensfragen. Vielleicht liegt es an der Offenheit in dieser
Frühphase der politischen Sozialisation, dass Heil nicht zum Dogmatiker
wird.
Parallel ist der Jugendliche als Schülervertreter aktiv. Als sich
die Lehrer im Unterricht negativ zur Gesamtschule äußern, gibt
Heil eine Pressemeldung heraus, in der er fordert, die Lehrer sollten
die "Hetze" während der Stunden unterlassen. Von acht Pädagogen
wird er verklagt, gewinnt den Prozess und ist stolz. "Ich war dieser
Wichtigtuer-Klassensprecher-Typ", sagt Heil.
Peine im März 2005, 22 Uhr, Gewerkschaftshaus. Die Diskussion ist
vorangeschritten und die Gegner kommen aus den Löchern. Eine Frau
lässt sich zu einem Generalvorwurf hinreißen und verurteilt
die Politik und vor allem "die Politiker". Die sprechen nicht
mal in Hauptsätzen, drücken sich so aus, dass es niemand versteht,
und sagen eigentlich nichts, erzählt sie in einem eher beiläufigen
Tonfall. Heils Stimme wird lauter und schneller. Es gebe nicht "die
Politiker" und überhaupt sei die Welt auch nicht so einfach.
Man könne nicht alles in Hauptsätzen sagen, alles andere sei
Verdummung.
"Ich habe mich da schon künstlich etwas reingesteigert",
sagt Heil später. Die Gesprächsrunde ist zu Ende und bei einem
Pils erzählt Heil, warum ihm Politiker oft zu cool sind. Er möchte
seine Erregung zulassen. Politiker sollten sich nicht zu oft auf gestanzte
Formulierungen verlassen. Die Mediengesellschaft hätte schon viele
dazu gebracht, sich selber zu zensieren, um immer sendefähig zu sein.
Heil sagt auch vor potentiellen Wählern Sätze, die nicht unbedingt
Stimmen bringen. Er spricht davon, dass es die Arbeit von früher
nicht mehr geben wird. Und eigentlich haben sie noch keine wirklichen
Rezepte zur Hand. Aber wenn das Licht am Ende des Tunnels kaum zu sehen
ist, kann er sich da für die Arbeit motivieren? Heute schon, aber
das war mal anders.
1998 zieht Heil mit 15,3 Prozentpunkten Vorsprung gegenüber dem CDU-Kandidaten
in den Bundestag ein. Trotz der großen Freude folgt bald ein harter
Aufschlag. Die Partei hat Startschwierigkeiten und auch Heil selbst muss
die neuen Anforderungen ordnen.
Burn-out. 1999, ein knappes Jahr nach der Wahl in den Bundestag ist Heil
erschöpft. Die Mitte verloren, Frustrationspfunde zugelegt und Freunde
vernachlässigt. Heil schiebt am Anfang Probleme und unangenehme Termine
auf. Das ist wie pappiger Schnee. Man fängt mit einem kleinen Schneeball
an, rollt ihn und irgendwann ist er eine riesige Kugel, die sich kaum
noch bewegt. Aber Heil organisiert sein Büro besser und arbeitet
effektiver. Die Prozesse der Selbstzweifel durchzustehen, hilft am Ende:
"Nach fast sieben Jahren bin ich heute ein besserer Abgeordneter,
glaube ich", sagt Heil. "Ich weiß auch, dass ich irren
kann. Und ich hänge keiner Ideologie nach."
Trotzdem interessiert sich Heil für Grundsätzliches und Perspektivisches.
In Büchern wie "Die neue SPD" oder in der Zeitschrift Berliner
Republik schreibt er über die Zukunft der SPD. Dabei sieht er sich
nicht als Theoriefreak. Es geht um Anstöße: "Den großen
Denkern meiner Partei fällt nichts mehr ein. Denen fällt es
schwer, die Erkenntnisse von vor 30 Jahren zu relativieren", sagt
Heil.
Gemeinsam mit anderen Jungabgeordneten aus dem "Netzwerk Berlin"
und einem Expertenteam aus Wissenschaftlern erarbeitet er 2003 Impulse
für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bis heute ist zwar noch
nichts umgesetzt, aber auf dem Bundesparteitag 2005 soll ein neues Grundsatzprogramm
beschlossen werden. Inwiefern die Ideen des Nachwuchses einfließen
werden, ist noch nicht klar.
Berlin, Ende Februar 2005, ein Sitzungssaal im Paul-Löbe-Haus. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit trifft sich zu seiner 85. Sitzung.
Unter anderem steht der "Pakt für Deutschland" der CDU/CSU-Fraktion
auf dem Programm. Die Sitzung wird zum Scharmützel: Gegenseitig wirft
man sich Blockadepolitik vor, über die Sache wird fast gar nicht
gesprochen. Dem Vorsitzenden Rainer Wend wird das an diesem Tag bald zu
bunt und er fordert die Diskutanten auf, doch bitte die ritualisierten
Verhaltensweisen und die Polemik zu reduzieren. Bei solchen Beschimpfungen,
vor allem auch im Bundestag, würden sich die Bürger zu Recht
fragen, was denn getan werde.
Wends Erinnerung an die Aufgabe der Abgeordneten versandet. Auch Hubertus
Heil meldet sich zu Wort. Wie schon am Vortag in der SPD-Arbeitsgruppe
für Wirtschaft und Arbeit sagt er, dass es um die Sache gehen müsse.
Bei einem Reformstau hätte letztendlich die gesamte Politik unter
Glaubwürdigkeitsverlust zu leiden.
Stillstand und Ohnmacht. Auch wenn Heil später erzählen wird,
im Ausschuss würde durchaus an Kompromissen gearbeitet werden, scheint
die Arbeit an diesem Tag ziellos zu sein. Er kann die Grabenkämpfe
und Rituale selbst nicht gut ertragen, sagt Heil. "Es gibt Momente,
in denen ich mich schon machtlos fühle." Aber Heil klingt dabei
nicht resignativ. Sein Amt sei zwar nicht so mächtig, wie manche
denken, aber auch nicht so ohnmächtig, wie einem andere weismachen
wollen.
Viel gefährlicher als der Machtmissbrauch sei aber, durch das Amt
persönlich korrumpiert zu werden. Heils Erdung sind ein paar wenige,
wirklich wichtige Freunde und vor allem seine Frau. "Es geht um die
Haltung. Die Gefahr, zum Arschloch zu mutieren, ist immer da."
Generalstabsmäßig wird nun der Wahlkampf organisiert. Microtargetting,
aufwendige Wahlkreisanalysen und ein straffer Zeitplan. Ziel ist, das
Direktmandat zu verteidigen. Der Rettungsanker Listenplatz ist noch nicht
geklärt.
Der Wahlkampf gliedert sich in drei Phasen. Zuerst sollen alle 3.000 SPD-Mitglieder
angerufen werden. Organisieren, mobilisieren und motivieren sind die Stichworte.
Dann will Heil Gespräche in den Gärten der SPD-Ortsvereinsvorsitzenden,
um den Menschen noch einmal genau zuzuhören. Und in den letzten drei
Wochen geht es in den "Häuserkampf". Mit Hilfe der Analyse
und einer Telefon-CD sollen Hausbesuche bei wackeligen Wählern gemacht
werden. "Mir machen Wahlkämpfe unheimlich viel Spaß",
sagt Heil.
Parallel zum Wahlkampf vor Ort denkt Heil über Konsequenzen im Bund
nach. "Ich habe diesen Job bis jetzt noch nicht machen müssen,
aber Opposition ist bestimmt scheiße", sagt er und beteuert
zugleich, trotzdem für die einflussärmere Arbeit gerüstet
zu sein. Denn auch wenn jetzt vielleicht vier Jahre Angela Merkel auf
Deutschland zukommen würden, bedeute das nicht den Untergang des
Abendlandes. Vielleicht nutzt die SPD dann diese Phase zu einer Erneuerung
und einem Generationenwechsel. Hubertus Heil wird dabei sein.
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Das
Porträt erschien in der taz Nord Nr. 7691
vom 16.6.2005 | TAZ
Artikel als PDF-Datei
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