An jedem zweiten Tag
stirbt hier ein Mensch

Marcel Weber ist Medizinstudent und absolviert auf der Intensivstation der Uniklinik Essen den ersten Teil seines Praktischen Jahres.

Die Tür schwingt auf, ein leerer Gang. Kein Geräusch, kein Geruch. Dann ein Stück tiefer hinein. Klong, Klong. Immer wieder klingelt diese Glocke in den Zimmern. Hantierende Menschen neben Betten, in den Betten Menschen mit Schläuchen im Mund. Schläuche, Infusionen überall.
Intensivstation, Universitätsklinikum Essen. Klong, Klong – ein schwerer Ton, sobald sich der Blutdruck vom Normwert entfernt. Überhaupt bimmelt und piept es hier ständig; rote, gelbe und grüne Linien bewegen sich im Zick-Zick und in Wellen über Bildschirme; Perfusoren spritzen automatisch Schmerzmittel. Meistens schlafen die stummen Körper, oft stirbt ein Mensch. Etwa alle zwei Tage schafft es hier auch die moderne Medizin nicht mehr, ein Leben zu verlängern.
Plötzlich mischt sich unter die tiefen Glocken ein Alarmton, der an ein altersschwaches Martinshorn erinnert. Sofort steht ein Arzt neben dem Patienten, denn das Signal bedeutet, dass ein Herz in diesem Moment stehengeblieben ist. Und dann ist auch Marcel Weber dabei.
Heute ist es ein Fehlalarm, weil ein Herzschrittmacher aus dem Rhythmus kommt. Oberarzt Holger Eggebrecht positioniert über den Katheter den Schrittmacher neu, Marcel Weber beobachtet ihn. Der 24-Jährige studiert seit 2002 Medizin. Angefangen hat er in Halle, nach dem Physikum wechselte er nach Essen. Jetzt steht er am Ende der universitären Ausbildung und absolviert auf der Konservativen Intensivstation heute den letzten Tag seines ersten Tertials im Praktischen Jahr. Hier heißt er nur „PJler“, trägt blaue Stationskleidung und immer einen Block bei sich.
„Auf anderen Gebieten dauert es länger, bis man den Nutzen der eigenen Arbeit sieht“, sagt Marcel Weber über seine Motivation. Für die Medizin habe er sich entschieden, weil ihn das viele Wissen reize und der Körper ein „cooles Gebilde“ sei. Ja, er wolle den Menschen helfen.
„Die PJler brauchen erstmal vier Wochen Basics, damit sie keinen umbringen“, sagt Pfleger Christian Schön, als er sich im Aufenthaltsraum einen Kaffee einschenkt. Marcel Weber lacht. Den Ton der Pfleger ist er gewohnt, außerdem sind sie um einiges fitter, erklärt der Student. Dann holt er ein dickes, kleinformatiges Bändchen aus der Tasche seines Hemdes: „Arzneimittel pocket plus“. Er wiegt es in der Hand hin und her: „Wenn man das alles auswendig könnte, wäre man richtig gut.“ Aber er sei realistisch. „Man muss hier zuschauen und lernen.“
Marcel Weber zieht sich eine blaue Haube über die Haare und legt einen Mundschutz an. Er assistiert einer Ärztin bei einer Bronchoskopie, reicht ihr ein lokales Betäubungsmittel. Wenn die Kamera in die Lunge eingeführt wird, soll die Patientin nichts spüren, auch wenn sie schon komplett sediert ist. So wie Marcel Weber die Spritze vorbereitet hat, will sie die Ärztin jedoch nicht. Sie bittet ihn, das Anästhetikum neu aufzuziehen. Zum ersten Mal an diesem Tag zittern seine Hände ein bisschen.
Die Stimme der Ärztin sei plötzlich nervöser geworden, erklärt er später. Das habe ihn unruhig gemacht. „Man will richtig handeln, aber sie hätte es besser erklären müssen.“
Einige der Patienten wissen nicht, dass draußen mittlerweile alle Blätter von den Bäumen abgefallen sind. Rita Müller ist noch nicht so lange hier, aber sie hat wohl noch viel vor sich. Ein Schlaganfall hat sie an diesen Ort gebracht. Heute geht es ihr besser, aber das Herz ist schwach. Jetzt soll untersucht werden, welchen Platz sie auf der Transplantationsliste bekommen kann. Aber daran denkt Rita Müller nicht. Sie legt ihren Frühstückslöffel zur Seite und sagt, sie sei ein ungeduldiger Mensch und wolle nur nach Hause zu ihrem Mann. Der habe kaputte Knie und sei allein. Marcel Weber nickt: „Ja, aber jetzt müssen Sie zuerst an sich denken.“
Etwas abseits meint er dann: „Damit sie weit oben steht, muss es ihr noch um einiges schlechter gehen.“ Er fühle schon mit dieser Patientin, aber man dürfe auch nicht zu viel mit nach Hause nehmen, sonst würde man sich kaputt machen.
Marcel Weber will mit Hilfe der Wissenschaft den Menschen helfen. Das mache für ihn 70 Prozent der Arbeit aus. „Ich bin ja kein Gesprächstherapeut.“ Trotzdem sei es ihm wichtig, jedem sein Schicksal so zu erklären, dass er es ertragen kann.
Kommunikative Fähigkeiten und ein positives Menschenbild seien die wesentlichen Eigenschaften eines guten Arztes, sagt Professor Stefan Gesenhues. Ein paar hundert Meter vom Klinikum entfernt sitzt der Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin in seinem Büro und erklärt die Anforderungen an die Studenten. „Praktische ärztliche Fähigkeiten und eine fundierte Basis medizintheoretischen Wissens sind jedoch unabdingbare Voraussetzungen für die qualifizierte ärztliche Tätigkeit.“ Ohne Erfüllung dieses Anforderungsprofils dürfe kein Studierender die Universität verlassen, sagt er immer wieder.
Am späten Nachmittag zieht Marcel Weber die Stationskleidung aus. Er muss schnell nach Hause, danach wieder zurück in die Klinik, Geldverdienen in der Patientenaufnahme, dann vielleicht noch an die Doktorarbeit. „Man merkt im Praktischen Jahr, was es bedeutet, richtig zu arbeiten“, sagt er und lacht. Es sei eine Herausforderung. Immer wieder.
Heute haben alle auf der Intensivstation überlebt. Ein guter Tag. Aber vielleicht ist gerade morgen wieder dieser zweite Tag, an dem es einer nicht schaffen wird.

*Alle Namen der Patienten geändert

„Man merkt im Praktischen Jahr, was es bedeutet,
richtig zu arbeiten“, sagt Marcel Weber und lacht.
Es sei eine Herausforderung. Immer wieder.
Fotos: Tim Meyer

 

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© Westfalenpost, 2. Januar 2008