Kein Platz für Persönlichkeiten

35 Jahre lang war Werner Mäsing Lehrer /
Für ihn hat sich in dieser Zeit viel verändert

Eigentlich sollte Werner Mäsing Geistlicher werden. Jedenfalls wollten das seine Eltern. Sechs Jahre studierte er Theologie, bis er wusste, dass er sich mit dieser Aufgabe nicht hundertprozentig identifizieren kann. Er entschied sich, Lehrer zu werden.
35 Jahre lang stand Werner Mäsing vor den Schülern des Walburgisgymnasiums als Englisch- und Religionslehrer. Seit dem vergangenen Jahr ist er im Ruhestand. Für die Wahl des Lehrerberufes habe es kein Erweckungserlebnis gegeben. Keinen Lichtstrahl, der den Eingang einer Schule erhellte. Letztendlich war es eine rationale Entscheidung. Er konnte Teile seines Theologiestudiums anrechnen und für Anglistik entschied er sich, weil ihm sein Englischlehrer damals viel mitgegeben hatte. „Das war eine richtige Persönlichkeit."
 Die Zeit der Persönlichkeiten unter den Lehrern sei heute mehr oder weniger vorbei, meint Werner Mäsing. Heute sei die Arbeit geprägt von einem strammen Lehrplan, zentralen Prüfungen und Lernstandserhebungen. Gemeinschaftliche Aktivitäten, wandern und singen, müssen hinten anstehen. „Dafür bleibt einfach keine Zeit mehr."

 Es bleibt keine Zeit mehr

Wenn es etwa um die zentralen Prüfungen geht, müssen die Vorgaben abgearbeitet werden. Früher hatte er Martin Luther King ausführlicher im Unterricht behandelt, als es im Lehrplan stand, weil es ihm am Herzen lag. Das ging zuletzt nicht mehr. Die heutigen Vorschriften empfand er zuletzt einengend — so als würde er programmiert werden. Natürlich habe es auch früher die Bindung an den Lehrstoff gegeben, aber daneben existierten eben Freiräume. „Ich war froh, als nach meiner Pensionierung die Bevormundung durch die Regierung vorbei war", sagt Werner Mäsing. „Die Arbeit mit den Kindern hätte ich jedoch gerne noch weiter gemacht."
Aber auch die Kinder und ihre Eltern hätten sich verändert, sagt der Pädagoge. „Heute sind viele Schüler verhätschelte Muttersöhnchen." Früher sei man eine Rechenschwäche mit Nachhilfe angegangen, heute werde es Dyskalkulie genannt und zu einem Krankheitsbild gemacht. „Das scheint mir übertrieben." Werner Mäsing propagierte in seinem Fach systematisches Pauken und ließ jede Woche zwei Vokabeltests schreiben. Wer mehr als 50 Prozent nicht konnte, bekam eine Fünf. Er wollte streng, aber gerecht sein. Immer konnte er jedoch nicht so konsequent sein, wie er es gewollt hätte. „Wir sind bei der Notengebung milder geworden, weil sich die Schüler heute nicht mehr so gut konzentrieren können."

„Ich wollte die Schüler nie in eine Form pressen,
sondern ihnen etwas mit auf  den Weg geben."

Werner Mäsing

Werner Mäsing holt ein Fotoalbum und blättert. Alles ist ordentlich beschriftet und zeigt die ersten Jahre seiner Lehrerlaufbahn. Beim Sommerfest 1975 ist er mit Zylinder und Gitarre zu sehen, die jungen Mädchen tragen lange Röcke und singen. Ein paar Seiten weiter wandert er mit seiner Klasse in Heidermühle. Fast ausschließlich sind es Ausflugsbilder, die er in das Album geklebt hat. Nur ein Bild zeigt ihn vor der Klasse — mit einem roten Büchlein bei der Notenvergabe.
Der heute 66-Jährige erinnert sich noch daran, wie ihm im Referendariat bewusst wurde, dass er nun ganz praktisch für einen Teil der Erziehung zuständig war. Er wollte diese Herausforderung mit Schülern und Eltern gemeinsam angehen. „Ich wollte mich immer um die Schüler kümmern."
Aufgewachsen ist Werner Mäsing im Münsterland - mit 13 Geschwistern. Für seine Eltern war sicher, die Mädchen müssen verheiratet und einer von den Jungs soll Geistlicher werden. Auch wenn Werner Mäsing diesen Weg für sich eigentlich nicht sah, trat er ihn an. Er besuchte ein Internat der Steyler Missionare und studierte nach dem Abitur auch bei diesem Orden in St. Augustin und Wien. 1968 schloss er das Theologiestudium ab. „Ich hatte mich dabei immer schon gefragt: Was machst du, wenn du mit dem Priesteramtsstudium aufhörst?", erzählt er. Vor dem Hintergrund der Studentenbewegung wandte sich Werner Mäsing vom vorgezeichneten Pfad ab, ging nach Münster und studierte Theologie und Anglistik für das höhere Lehramt.
Den jungen Menschen fehle heute die Nähe zum praktischen Leben, meint Werner Mäsing. Sie wüssten zwar, wie man einen Zentner umrechnet, aber die Schüler hätten nicht im Gefühl, wie viel eigentlich ein Zentner Kartoffeln ist. Vielleicht liege das auch am Internet.
Der Pädagoge sieht die Gefahr der Unselbstständigkeit, weil Wissen scheinbar nur noch aus dem Internet herunterkopiert werden muss. Andererseits sei gerade diese Fülle eine Chance, um verantwortungsvoll Informationen zu recherchieren. „Es ist doch phänomenal, was uns dort zur Verfügung steht." Und wenn seine Schüler das Internet zum Schummeln einsetzten, mussten sie die Arbeit mit der identischen Aufgabenstellung nachschreiben. Sie sollten ihm beweisen, dass sie das auch selbst können.
„Ich hatte nie die absolute Nähe zu den Schülern", sagt Werner Mäsing. Ihm sei es wichtig gewesen, Distanz zu wahren und den Schülern unterschiedliche Denkweisen erfahrbar zu machen. Zu einer Klasse ist trotzdem eine besondere Beziehung geblieben.

Besondere Beziehung

Werner Mäsing holt ein zweites Fotoalbum, blättert und zeigt auf eine Gruppe Frauen, mit der er im Garten steht. „Mit meiner ersten Klasse treffe ich mich bis heute alle fünf Jahre." Er redet mit ihnen über ihren Alltag, weil er wissen will, ob sich die Schule für ihr praktisches Leben bewährt hat und die Erziehung damals richtig war. „Ich wollte die Schüler nie in eine Form pressen, sondern ihnen etwas mit auf den Weg geben."

Foto: Julian Gebhardt

 


Artikel als PDF-Datei

© Westfalenpost, 8. September 2008