Am Rande einer Stadt Eine Wanderung entlang Hildesheims Grenzen In einer Stadt. Aus einer Stadt hinaus. Hildesheim. Historisch, zerbombt, wieder aufgebaut. Was befindet sich an der Peripherie einer Großstadt, die mit ihren 101786 Einwohnern auf Platz 79 von 81 Großstädten in Deutschland steht? Knapp 4000 Hildesheimer weniger als noch vor 10 Jahren. Ziehen noch einmal 2000 weg, wird aus dem Großstädtchen eine Kleinstadt. Hinter dem Bahnhof geht die Wanderung los. Im Uhrzeigersinn einmal rundherum. Zwischen Kleingartenkolonien und der Bundesstraße 6 führt ein Weg aus der Stadt. Am Ende der „Scharlake“, der nördlichsten Straße, geht es rechts zum Flugplatz. Am Tor steht der Leiter der Motorfluggruppe des Aero-Clubs, Peter Berghoff. Der 58-jährige ehemalige Berufssoldat, engagiert sich seit seiner Pensionierung vor fünf Jahren besonders intensiv für den Club. 1912 landete zum ersten Mal ein Flugzeug auf dem kleinen Flughafen. Aber der Plan, Hildesheim ins wachsende Liniennetz der Lufthansa einzubinden, scheiterte. Von 1927 bis 1930 gab es dennoch fast tägliche Verbindungen. Hildesheim-München für 80 und Hildesheim-Venedig für 173 Reichsmark. Dann kam Hitler an die Macht und die Luftwaffe gründete eine Luftbildschule auf dem Gelände. Aufklärer wurden von hier aus über die Einsatzorte geschickt, um diese mit Fotos zu dokumentieren. Das nördliche Gewerbegebiet. In einem klapprigen Golf fährt ein Mann vorbei und sieht mit grimmiger Miene aus dem Fenster. Lagerhallen, Computerläden, Fitnessclubs. In einem Wohnwagen wartet eine Frau wohl schon etwas länger. Auf dem Beifahrersitz ist sie über einem Sudoku-Rätsel eingeschlafen. In einer Seitenstraße lädt der Night-Club Cleopatra ein. Ein Schild neben der Eingangstür weist darauf hin, dass es für die Dienstleistungen der Damen auch ermäßigte Preise gibt. Dann der Hafen. Klein, unscheinbar und wichtig für die Region. Das Büro von Klaus Marte, dem Geschäftsführer der Hafenbetriebsgesellschaft, atmet das Aroma der achtziger Jahre. Vor der Tapete aus braunem Kork steckt sich Marte eine Zigarette an und erzählt. Weiter über einen Feldweg, der neben einem Standortübungsplatz vorbeiführen soll. Nach wenigen Metern ist ein angerostetes Schild aufgestellt: „Militärischer Sicherheitsbereich – Unbefugtes Betreten verboten – Vorsicht Schußwaffengebrauch – Der Bundesminister der Verteidigung“. Am Himmel ein Drachen. Die Bundeswehr hat sich zurückgezogen. Heute kämpfen hier Menschen gegen Plastikfluggeräte an Nylonfäden. Über einen Wall geht es in den Stadtteil Himmelsthür. Hier tragen die Straßen Politikernamen und die Tauben sind etwas scheuer als im Zentrum. Noch durch ein enges Gässchen und laut Karte sollte vorerst der westliche Stadtrand erreicht sein. Aber wo auf der Karte nur Brache ist, zieht sich jetzt ein Neubaugebiet gen Horizont. Ein paar Straßen weiter kommt ein Mann mit einer Plastiktüte in der Hand den Weg herunter. Seine Haut ist von einem glänzenden Fettfilm überzogen. Er durchsucht einen Mülleimer und er will angesprochen werden. Ohne Pausen zu machen, erzählt er: „Bis jetzt habe ich zwei Euro. Ich bin Rentner und bekomme nur 560 Euro im Monat. Mit einer Wohnung und einem Auto reicht das natürlich nicht. Die Rente ist dann schon weg. Von den Flaschen finanziere ich mein Leben. Hier ist die Konkurrenz nicht so groß. In der Stadt sammeln so viele Ausländer. Und mir ging es lange Zeit schlecht. Ich hatte eine innere Entzündung, die mich aufquellen ließ. Meine Finger sind immer noch kaputt. Die Hautärzte wussten auch nicht weiter. Seit zwei Jahren benutze ich jetzt diese Honiglotion und bin fast geheilt.“ Das nächste Hindernis ist die Bundesstraße 1, die Hildesheim etwa im oberen Drittel durchtrennt. Weil die Füße bereits zu spüren sind, ist der Umweg über die Ampel weiter hinten keine Option. Direkt hinter einer Kurve ist eigentlich die ungünstigste Stelle, um die Straße zu überwinden. Die Autos fahren hier 100. Trotzdem los. Im Spurt und mit Sprüngen über Seiten- und Mittelplanke. Drüben. Auf der anderen Seite angekommen, taucht der Volksheld Australiens auf. Der Tierfilmer und Krokodilbezwinger Steve Irwin starb vor wenigen Monaten durch einen Rochenstachel, als er auf Tauchgang für ein Filmprojekt am Great Barrier Reef war. Jetzt steht er in Hildesheim an der B1 und beantwortet bereitwillig Fragen. Ob er in bestimmten Momenten solche Angst vor einem Krokodil hatte, wie man selbst vor den Autos? Er erklärt, dass man keine Angst haben darf und betet die Formel für alle Tierfilmer und Abenteurer herunter: „Du brauchst vor allem Respekt!“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, wendet er sich um und geht. Voller Respekt pocht das Herz neben dem Verkehrstrom ein bisschen schneller. Am Rand des etwas außerhalb gelegenen Stadtteils Sorsum durch ein Landschaftsschutzgebiet. Es setzt platzartiger Regen ein. Der Wald ist hier sehr dicht und ein Baum am Wegrand gibt für den Moment Schutz. Ein Jogger kommt vorbei. Im Ohr Kopfhörer. Als einige Minuten später ein lautes Donnern ertönt und die Luft durch einen Blitz hell aufleuchtet, hat der Jogger den Highway To Hell erreicht. Zehn Minuten später in einem kleinen Bushäuschen. Stadtteil Hildesheimer Wald. Durchnässt. Hier riecht es nach Zigaretten und aufgedrängten Küssen. Aber es ist trocken. Die Hälfte des Weges ist geschafft. Die Füße möchten gerne sprechen. Möchten sich vom Körper trennen und in den Bus steigen. Die Füße möchten nicht mehr. Und der Hunger macht auf Kumpel mit ihnen. Aber es muss weitergehen. Nicht der Weg ist das Ziel. Das Ziel ist das Ziel. Zumindest für die Füße. Nach einer halben Stunde lässt der Regen nach. Durch eine kleine Straße geht es in Richtung Marienrode. Die Geschichte des Klosters Marienrode reicht zwar bis ins Jahr 1125 zurück, die Benediktinerinnen zogen jedoch erst 1988 hierher. 1806 wurde das damalige Zisterzienserkloster aufgegeben und bis 1986 von elf Pächterfamilien als Gutshof bewirtschaftet. Marienrode ist klein und schnell durchquert. In Ochtersum geht es wieder durch Neubaugebiete, die wie Fata Morganas auftauchen und nicht in der Karte verzeichnet sind. Dem Ende des einen Neubaugebietes folgt ein nächstes. Wie ist bei dieser Baulust der Einwohnerschwund der Stadt zu erklären? Oder beginnt jetzt hier an den Rändern das wahre Leben? Der Feldweg endet an der Domäne Marienburg. Anstatt direkt links Richtung Itzum abzubiegen, führt eine Straße nach rechts aus der Stadt hinaus. Immer weiter bis die Grenzen Hildesheims durchbrochen sind und der Weg irgendwann auf einem Parkplatz vor dem Wald in Söhre endet. Dort steht der Förster Kurt Norbert Bald. Er lädt zu einer Rundfahrt durch sein Revier ein. Zurück in den Stadtgrenzen. Itzum rauscht fast unmerklich vorüber. Am östlichsten Punkt der Umrundung führt eine Abzweigung in Richtung des Waldgebietes um den Galgenberg. Es beginnt ein Trimm-dich-Pfad, der schon lange nicht mehr benutzt wurde. Die Schilder hängen schief und sind angerostet. Die Trimm-dich-Pfade wurden in den 70er Jahren vom Deutschen Sportbund erdacht. Mit Unterstützung der Politik, den Krankenkassen und der Wirtschaft wollte man gegen die Kreislauferkrankungen ankämpfen. Heute stählt man den Körper lieber in Hallen mit vielen Geräten, bummernder Bassmusik und spähenden Singles. Am Karrenweg endet das Waldstück und die Ostseite der Stadt ist erreicht. Der Weg verläuft im unteren Teil neben dem Niedersächsischen Landeskrankenhaus. 1827 als Hildesheimer Heil- und Pflegeanstalt im Michaelis- und Magdalenenkloster gegründet, bezog man Ende der 1970er Jahre den Neubau am Stadtrand. In dem Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie gibt es heute 405 Betten. Der Weg endet bald, das Ziel ist nah. Den Füßen ist das egal. Sie verabschiedeten sich vor etwa einer Stunde endgültig und zogen sich mit dem Hunger in eine Parallelwelt zurück. Ein Schokoriegel von der Tankstelle konnte beide nur für Minuten besänftigen. Dann zerschneidet die Bundesstraße 1 zum zweiten Mal den Weg. Diesmal ist jedoch eine Ampel erreichbar nah. Die letzten Kilometer führen durch das östliche Gewerbegebiet. |
Fotos: Tim Meyer Eine Wanderung im Sommer 2006. |