Die künstlerische
Glasnost
Bei der "Intemporale24"
machen 40 Studenten
ein soziales Experiment und bringen in 24 Stunden
ein Theaterstück
auf die Bühne
Christoph
Schlingensief hat mal vom "Scheitern als Chance" gesprochen.
In den internen Interviews auf der Webseite von "Intemporale24"
sprechen auch viele der Beteiligten vom Scheitern. Die meisten meinen
das positiv oder haben zumindest keine Angst davor. Es ist der Prozess,
der zählt. Ein soziales Experiment, eine Grenzerfahrung.
Außer den Räumlichkeiten, die drei Etagen der ehemaligen Bernward-Buchhandlung
am Hohen Weg, und 40 Personen, die sich in 15 Gruppen aufteilen, ist erstmal
nichts da. Am Freitag um 20 Uhr wird ein Thema ausgelost und 24 Stunden
später soll es die Premiere des Stückes geben. Dramatiker werden
am Laptop sitzen, eine Bühne wird gebaut, Schauspieler müssen
ihre Rollen finden und die Regisseure sollen alles in eine Form bringen.
Haben sich hier also 40 Studenten zum fröhlichen Scheitern zusammengefunden?
Weit gefehlt. Um 20 Uhr sind es arbeitswütige Enthusiasten, die gespannt
warten, welches der fünf Themen gezogen wird. Keine Angst, zu scheitern.
Keine Angst vor dem Schlafentzug.
Webmaster Roland Bedrich übernimmt die Aufgabe und zieht den Umschlag
des Performancekünstlers Jürgen Fritz aus dem Rattankorb. Es
ist ein dicker Umschlag. Enthalten sind ein Auszug aus Fritz' aktuellem
Lieblingsroman "Die Rückkehr des Tanzlehrers" von Henning
Mankell, eine Eintrittskarte für eine römische Kirche, eine
Seite aus dem Buch "Alchemie und Mystik", Noten für die
Nationalhymnen von Kolumbien, Indonesien und Peru, Puppenbilder und eine
Geldrolle für Pfennigmünzen.
Das ist die Vorgabe. Daraus soll in 24 Stunden ein Theaterstück entstehen.
Alle Prozesse bleiben dabei durchgehend transparent, denn das Publikum
darf überall hin. Ein künstlerisches Glasnost. Nur der Ruheraum
ist tabu. Wenige Minuten nachdem das Thema gezogen ist, verteilen sich
alle auf die drei Etagen und legen los.
20.30 Uhr. Die beiden Regisseure, Martin Zepter und Katja Kendler, setzen
sich mit den vier Schauspielern in eine Runde und nehmen sich ein paar
Minuten Zeit, sich kennen zu lernen. Kendler: "Wir werden unter Zeitdruck
stehen. Ich werde uns öfter unterbrechen und pushen." Schauspielerin
Julia Biehl: "Ich will den Zeitdruck nicht die ganze Zeit spüren.
Aber pushen ist gut." Die Gruppe gibt sich die Regel, Probleme sofort
anzusprechen und jede Kritik nur konstruktiv zu formulieren.
Lisa Trümner, neben Marcel Sparmann die Leiterin der Intemporale24,
ist jetzt entspannt. "Bis 20 Uhr war ich aufgeregt. Jetzt ist es
so, als ob mein Kind plötzlich erwachsen und selbstständig geworden
wäre." Seit Ende November hat sie mit Sparmann an dem Projekt
gearbeitet. Jetzt muss sie es ziehen lassen und schauen, was passiert.
Trümner sieht entspannt aus. Sie hat Vertrauen in alle Beteiligten.
In der zweiten Etage herrscht kontrolliertes Treiben wie in einem Ameisenhügel.
Mittels Planen wurden kleine Räume abgehängt. Die vier Dramatiker
sitzen vor ihren Laptops und gehen gemeinsam das Material durch. Der Auszug
aus dem Mystik-Buch hat den Grundstein gelegt. Das "philosophale
Ei" wird die Grundmetapher des Stückes. Das ist offen, mysteriös
und interpretierbar.
Weil hier alles im Zeitraffer passiert, ist die erste Phase der Dramatik
schnell abgeschlossen. Danach wird jedem Schreiber ein Schauspieler zugeteilt.
Im Gespräch sollen die ersten Züge eines Charakters entwickelt
werden.
Dramatikerin Alexandra Müller und Schauspieler Ulrich Reinhardt sind
ein Tandem. Im Gespräch tasten sie sich an die Figur mit dem Arbeitstitel
Alexander Storm. Er ist von der Form des Eiweiß besessen. Müller
sagt, dass sie die "aufpoppenden Momente" ihres Gesprächs
weiterverarbeiten wird. Auch Reinhardts Physis baut sie ein. Bei den ersten
Aufwärmübungen der Schauspieler saßen die Dramatiker mit
im Raum. Sie wissen, wie sich ihr Partner bewegt. So entsteht eine Figur,
die ganz nah am Schauspieler ist.
Musiker Jannis Kaffka kommt Ukulele spielend die Treppe herunter. Die
indonesische Nationalhymne wird eine Rolle im Stück spielen, erzählt
er. Aber wahrscheinlich als Tangoversion, weil einer der Dramatiker das
gerne wolle.
21.30 Uhr. Eva Leute aus der Kostümabteilung kann erstmal nur warten.
Vielleicht müsse sie später die Nationaltracht von Indonesien
nähen. "Es ist alles noch so schwammig", sagt sie. Ein
Problem, das sie mit den Bühnenbildnerinnen teilt. Bevor sich Dramatik
und Regie nicht einig sind, in welche Richtung das Stück geht, können
sie nicht mit der Ausstattung beginnen. Das bedeutet aber auch, dass es
zum Ende hin immer schneller gehen und immer mehr Arbeit anfallen wird.
Leute lächelt trotzdem. Die Trierer Modedesignstudentin ist eine
der wenigen, die für das Projekt zugereist sind. Die meisten studieren
Kulturwissenschaften, Szenische Künste oder Kreativ Schreibern.
Egal mit wem man spricht, überall herrscht positive Spannung. Bei
der Intemporale24 hat sich ein Team zusammengefunden, das elektrisiert
von einer Idee, bereit ist, die physischen und mentalen Grenzen auszuloten.
Jeder kennt seinen Platz, seine Aufgabe. Keiner spielt sich auf. Für
das gemeinsame Ziel ordnen sich alle ein und nicht unter. Falls hier Menschen
mit allzu großen Egos dabei sind, haben sie diese heute vor der
Tür gelassen.
22 Uhr. Produktionsassistentin Nora Otte führt drei Besucher durch
die Räume. Es sind wenige, die kommen.
22.45 Uhr. Das PR-Team, Lino Wirag und Claudia Hobrack, steigt in den
letzten Nachtbus Richtung Hildesheimer Wald. Sie wollen die Mitfahrer
animieren, zur Intemporale24 zu kommen. Die meisten sind angetrunkene
Jugendliche, die lieber die Aktion stören, als zuzuhören. Ein
paar nehmen sich den Flyer mit, werden aber am nächsten Tag nicht
zur Premiere kommen.
Wirag stört das alles nicht. Nur das er sich wie ein Zeuge Jehovas
fühlt, ist ihm ein bisschen unangenehm. Ob es nun diese Aktion ist
oder das ganze Projekt, für ihn steht der Arbeitsprozess, das soziale
Experiment im Vordergrund.
23.40 Uhr. Die Schauspieler improvisieren in ihren Rollenskizzen. Eva
Bauriedl breitet mit großer Geste die Arme aus und ruft: "Ja
so!" Die Dramatikerin Jule D. Körber, Bauriedls Tandem-Partner,
wird später ein Problem damit haben, dass die Schauspielerin ihren
Text falsch interpretiert. Körbers weiß erst nicht, ob sie
Bauriedl das sagen kann. Es gehe ihr nicht darum, dass ihre Sätze
haarklein gesprochen werden, erklärt sie. Aber sie hat Sorgen, die
Rolle könnte so nicht funktionieren. Bald wird das Problem schon
wieder beigelegt sein und mit einer Umarmung besiegelt.
Ohne allzu große Worte in den Mund zu nehmen, kann sicherlich behauptet
werden, die Beteiligten der Intemporale24 werden etwas fürs Leben
mitnehmen. In 24 Stunden wird ein sozialer Mikrokosmos im Zeitraffer durchgespielt.
3.30 Uhr. Alexandra Müller schreibt aus erzähltechnischen Gründen
ihren Charakter um. Jetzt kocht Alexander Storm nicht mehr die unterschiedlichsten
Ei-Gerichte, fotografiert sie und schmeißt das Essen dann weg. Er
geht nun wissenschaftlich vor. Materialien sind nur noch ein Ei, ein Topf
und eine Flüssigkeit. Damit erforscht er die Form des aufplatzenden
Eies. Ein zentraler Satz seines Monologs: "Alles ist Einweiß.
Alles ist Form. Eiweiß ist formvollendete Form."
Dramatiker Martin Kordic sitzt neben Müller und sagt über seinen
Schauspieler: "Johannes kommt mit dem Text nicht klar. Er braucht
etwas Neues." Müller: "Deswegen arbeite ich nicht mit Schauspielern."
Beide lachen. Die Atmosphäre ist immer noch entspannt. Probleme werden
gelöst.
7.00 Uhr. Es ist insgesamt ruhiger geworden. Aber im Ruheraum schlafen
nur wenige. Alle sitzen noch an ihren Arbeitsplätzen, sind nur etwas
mehr ins sich gekehrt. So richtig gerne hinlegen, mag sich hier sowieso
keiner. Alle sind von einer Energie getrieben, die sie vergessen lässt,
dass der Körper jetzt langsam etwas Ruhe bräuchte.
Nur die Schauspieler haben gerade etwas geschlafen. Eva Bauriedl springt
von ihrer Matratze auf und ruft: "Die Eier machen mich fertig."
Das philosophale Ei ist mittlerweile so tief in die Gehirne eingedrungen,
dass es sie selbst in den Schlaf verfolgt.
11.20 Uhr. Regisseur Martin Zepter ist zufrieden. Momentan überlegen
sie, ob sich die Charaktere in einem Puppenhaus treffen werden. Die Figuren
seien einfach noch sehr autistisch.
Schnell wird klar, dass genau dieser Punkt ein Problem für die Dramatik
ist. Innerhalb so kurzer Zeit, Figuren zu entwickeln, die in einem nachvollziehbaren
Raum mit einer gemeinsamen Geschichte aufeinander treffen, scheint unerreichbar.
12 Uhr. Martin Kordic sagt: "Das wird ein richtig gutes Stück.
Ein Splatter. Wir müssen nur noch die Regie überzeugen."
Irgendwann ist einfach keine Zeit mehr, die Charaktere in einer gewöhnlichen
Situation zusammenzuführen. Also Mord. Es wird im Verborgenen passieren,
nur Blut an der Fahrstuhlwand wird davon zeugen.
Regisseurin Katja Kendler: "Wir vertrashen es. Das ist das einzige,
was wir machen können." Das klingt trotzdem nicht resignativ.
Die Prozesse entwickeln sich organisch und die Beteiligten nehmen es so,
wie es kommt. Aber als dann noch jemand fragt, ob die beiden später
in Unterwäsche auftretenden Schauspieler ihre Kleidung nicht ganz
ablegen sollten, sagt Kendler trocken einen wichtigen Satz: "Ich
will keine unbegründete Nacktheit in meinem Stück."
15 Uhr. Schauspieler Johannes Birlinger hat kleine Augen. "Man kann
nicht 36 Stunden wach sein und spielen. Ich habe meine Spannung und den
Rhythmus verloren. Das muss Thema werden", erzählt er. Er wird
später geraume Zeit des Stückes lethargisch vor einem Fernseher
sitzen. Dass sein Monolog über das System vollkommen gegensätzlich
zu seinem Verhalten ist, passt trotzdem. Es sind die Brüche, die
das ganze in Spannung bringen.
18.10 Uhr. Das Stück ist fertig. Gegen 18.30 Uhr können sie
endlich die erste Durchlaufprobe starten. Dass das auch die Generalprobe
sein wird, war so nicht geplant, scheint aber niemanden zu verunsichern.
20 Uhr, Premiere. Der Raum ist bis in den letzten Winkel gefüllt.
Das Stück heißt "Realife Paradummys In The Fire Of Eier
Desire" und es läuft gut. Fast alles klappt, wie es geplant
war.
Aber es lässt das Publikum angeregt und ein bisschen verwirrt zurück.
Zuschauerin Doris Anselm freut sich etwa über die positive Erwartungsenttäuschung.
"Es war wie ein Reigen, ein Kammerspiel." Die Geschichte ist
für sie schwer in Worte zu fassen, aber sie hat Themen wie Suche
und Vergebung entdeckt.
Es wäre vermessen gewesen, vom Intemporale24-Team zu erwarten, in
24 Stunden eine stringente Erzählung hinzubekommen. Sie haben eine
angenehm verstörende Mischung aus Drama und Slapstick geschaffen,
in der vier komplexe Charaktere auftreten. Es sind skurrile Figuren, die
fast nur autistisch handeln, aber dabei einfach stimmig sind. Und einige
Szenen werden sogar haften bleiben. Ulrich Reinhardts großartige,
an Mr. Bean erinnernde Körpersprache und Julia Biehls Blick, wenn
sie im gläsernen Fahrstuhl in die Tiefe fährt.
Trümners und Sparmanns Fazit fällt dann nach der Aufführung
auch mehr als positiv aus. Jetzt löst sich die letzte Anspannung
in einem breiten Grinsen auf. "Wir haben eine gute Show gemacht.
Wir haben gerockt", sagt Sparmann.
Selbst nach weit mehr als 24 Stunden ohne Schlaf wird an diesem Abend
wohl niemand schnell ins Bett gehen. Zu intensiv sind die Erfahrungen
und Gefühle. Sie wollen wach bleiben, weitermachen. Irgendeiner sagt
dann auch: "Lasst uns das nächste Stück anfangen."
Und das klingt nicht wie ein Witz.
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Aus
der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, Februar 2006
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