Vielleicht entsteht so Tradition

Das letzte Spiel bis zur Meisterschaft des VfL Wolfsburg zwischen Fans

Das erste Tor fällt, die Plastikklapperhände machen Alarm, aber man will sich noch nicht der Ekstase hingeben. 1:0 für Wolfsburg gegen Bremen. Das reicht, jetzt wäre schon alles klar. Die Uhr zeigt die 6. Minute an.
50000 Menschen haben sich in der Wolfsburger Innenstadt versammelt, um das letzte Spiel des VfL Wolfsburg zu sehen und zu feiern. Die Stimmung ist siegesgewiss, aber noch leicht verhalten, etwas angespannt. Ein junger Mann reicht einem trotzdem im Vorbeigehen die Hand und sagt: „Ey, heute wird eine Nacht.“ Nach dem zweiten Tor von Stürmer-Star Grafite knallen Sektkorken und Flüssigkeiten spritzen durch die Luft. Alles geht jetzt schnell, die Emotionen müssen im Sekundentakt angepasst werden. Plötzlich ein Bildausfall auf den Videoleinwänden und laut stöhnt die Menge auf. „Gebt uns das Bild zurück“, brüllt der Spiel-Kommentator. Die Temperatur und die Nervosität steigen, auch weil die Sonne ganz erbarmungslos vom Himmel brennt. Mit einem gelben Leibchen mit der Aufschrift „Alkoholtester“ bekleidet tastet sich eine junge Frau durch die Menge und bietet den Fans ihre Dienste an. Aber wer ist an solch einem Tag schon vernünftig?
Plötzlich 3:0, nach 26 Minuten. Kurz darauf läuten die Glocken. Aber das liegt einfach daran, dass es jetzt 16 Uhr ist. Aber die Zeichen sind trotzdem überdeutlich. Was dann kommt ist die pure Gier. Bei jeder Chance, die vergeben wird, stöhnen die Fans laut auf. Die Anspannung bleibt, weil nur fünf Minuten später ein Gegentor fällt. Auch Tobias Helmke, der zwischen tausenden Fans auf dem Rathausplatz steht, ist noch nicht locker: „Wolfsburg gegen Bremen, das sind immer torreiche Spiele. Da kann man sich noch nicht sicher sein.“
Dann ist erst mal Pause und nicht wenige Fans in der Menge wünschen sich wohl einen kurzen Schauer. Aber hier gibt es kein Erbarmen. Auf der großen Bühne sagt der Moderator eines privaten Radiosenders, dass vier Kinder ihre Eltern suchen und peitscht danach die Menge an. Fahnen, Haare, Schals, T-Shirts - alles erstrahlt in grün. Wenn Bewegung in die Menge kommt, sieht es so aus, als würden Gräser wild zu tanzen anfangen.
Manchmal war in der Vergangenheit die Spitze zu hören, der VfL Wolfsburg müsste doch eigentlich VW Wolfsburg heißen. Es ist das Hoffenheim-Phänomen: Wenn ein Verein nicht ganz so traditionsreich wie ein anderer ist, aber mit Finanzkraft und intelligenten Spielereinkäufen erfolgreich wird, gewinnen die Buh-Rufe an Lautstärke. Es ist eben immer schöner, wenn ein rostiger Wagen ein Rennen gewinnt, anstatt des PS-Boliden.
Das ist den vielen Menschen hier egal. Vielleicht braucht es so eine erfolgreiche Saison, um endgültig in den Herzen anzukommen. Vielleicht entsteht so Tradition.
Auf jeden Fall wollen alle in der Stadt etwas von diesem Strahlen abbekommen, dass sich der VfL Wolfsburg an diesem Tag zulegt. Das Kunstmuseum Wolfsburg lädt zur Liveübertragung, Grill-Party mit „exklusivem Blick“ auf die Fan-Meile ein. Ein Balkon für die Meister-Bewunderer. Man könnte doch auch gleich hier die Schale schwenken, dann braucht Uli Hoeneß nicht tief in die Tasche zu greifen, falls er doch noch seine Wette von 2004 einlösen würde. Auch in der Autostadt, der gläsernen Auslieferungs- und Erlebniswelt des VW-Konzerns, wurde in der Nacht zuvor die Beflaggung auf VfL-Fahnen umgestellt, und in den neun Restaurants der Anlage gibt es an diesem Tag kostenlose, grünfarbene „VfL Wolfsburg Cocktails“ – natürlich auch alkoholfrei. Und wenn es dunkel wird, sollen die Auto-Türme in den grün-weißen Vereinsfarben erstrahlen.
Nach der Halbzeit geht es mit den Toren weiter. Wieder Grafite, 4:1. Sie werden ihm wohl eine Skulptur bauen. Und jetzt ist es auch nicht so wichtig, wer geht oder wer bleibt. Die Freude ist größer als alle Sorgen, wie es in Zukunft mit der Mannschaft weitergehen wird, wenn ein neuer Trainer kommt und die Stars dem Geld folgen.
Selbst nach dem 5:1 bleibt es noch bis zur letzten Minuten bei kleinen und größeren Jubelinseln in der Menge. Noch bricht kein Kollektivjubel aus. Fein säuberlich ausgeschnittene Meisterschalen aus Pappe werden trotzdem bereits geschwenkt. Erst als die letzten 60 Sekunden anbrechen, steigen die Fahnen in die Luft, der Jubel brandet langsam auf und gipfelt in der Ekstase.
Abpfiff. Meister. Endlich ist alles klar. Eine Gruppe von drei jungen Frauen zieht sich die Fußball-T-Shirts aus und lässt den Sekt spritzen. Eine von ihnen ist Meike Klein: „Zwölf Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Ich dachte, ich erlebe das erst, wenn ich alt und schrumpelig bin.“ Aber ihr Vereins-T-Shirt hat sie nur abgelegt, damit es nicht mit Sekt bekleckert wird. Fan-Liebe besiegt eben auch Scham.
Auch Tobias Helmke kann sich jetzt freuen: „Sensationell, wir haben vorher noch nie etwas gewonnen.“ Später werde auf jeden Fall noch sieben- bis achtmal angestoßen. Und er ist sich sicher, der VfL Wolfsburg hat sich jetzt etabliert. Jetzt haben die Spieler vom VfL Wolfsburg die echte Schale in den Händen, mit den Fans im Stadion gefeiert, mit Bier und später mit Seife geduscht. Dann werden schnell alle Spieler und Offiziellen auf die Autos aus dem VW-Konzern verteilt und man macht sich auf den Weg zum Rathaus. Auch Ministerpräsident Christian Wulff, VW-Vorstandsvorsitzender Martin Winterkorn und VW-Aufsichtsratsvorsitzender Ferdinand Piech haben einen Platz ergattert. Weil der Korso für die Strecke ewig braucht, muss ein Fan nebenherlaufen, bekommt aber seine Autogramme. Parallel erreichen bereits die Spielerfrauen das Rathaus und gerade, als sie den VIP-Bereich betreten, singt Westernhagen „Sexy“.
Als die Spieler und der Trainerstab im Rathaus angekommen sind, folgt der Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, es gibt ein Gruppenbild mit Schale und Oberbürgermeister Rolf Schnellecke sagt: „Es ist vollbracht - das Fußballwunder von Wolfsburg.“ Jetzt kenne man Wolfsburg nicht mehr nur als Stadt mit den besten Autos, sondern auch mit den besten Fußballspielern. Später werden die Spieler in Grüppchen auf die große Bühne chauffiert. VW, Bugatti, Lamborghini, Audi – der Konzern zeigt noch mal, was er neben einem Deutschen Meister noch zu bieten hat. Die Fans geben noch einmal alles, was die Stimmen jetzt noch hergeben.
„Heute sind wir alle Wolfsburger“, sagt Christian Wulff, bedankt sich bei Felix Magath und meint, der werde schon irgendwann zurückkommen. Dann branden „Magath“-Sprechchöre auf, der Trainer tritt ans Mikrofon und sagt: „Ihr macht es mir aber nicht leicht.“ Und er stellt klar, er wäre nicht gegangen, wenn die Mannschaft jetzt nicht auch ohne ihn den Weg weitergehen könnte.
Es ist 22 Uhr, als Spieler und Trainerstab die Bühne verlassen und zu ihrer privaten Feier aufbrechen. Auf dem Rathausplatz ist bisher noch niemand gegangen und erst langsam setzt Aufbruchsstimmung ein. Wie lange jetzt noch gefeiert wird, weiß nur der Wind. Vielleicht bis die Wölfe heulen.

ddp, 22. Mai 2009