Für einen
neuen Arbeitsbegriff
Verbrechen begehen
Alle Verbesserung im Politischen
soll von
Veredlung des Charakters ausgehen –
aber wie kann sich unter den Einflüssen einer
barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?
Friedrich Schiller
Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Sie hätten sich kein besseres Jahr aussuchen können. 2007 werden
400 Jahre Mannheim gefeiert und die Stadt putzt sich heraus.
Bereits vor sieben Jahren starteten im Hinblick auf das Jubiläum
verschiedene Baumaßnahmen. Für die SAP-Arena wurde ein
Anschluss an den neuen Stadtbahnring Ost umgesetzt, man sanierte
die Fußgängerzone Breite Straße und die Blumenbeete am
Wasserturm sehen heute noch etwas akkurater und bunter aus.
Gerade wird rund um die Wasserspiele wieder geharkt und gezupft.
Man ist beschäftigt. Auch wenn man dafür vielleicht nur einen
Euro bekommt. In Mannheim waren im Mai 2007 8,6 Prozent aller
Erwerbspersonen arbeitslos. Die Stadt lag damit knapp unter dem
Bundesdurchschnitt von 9,1 Prozent.
Regisseur Simon Solberg und
Dramaturg Volker Bürger arbeiten seit April 2007 mit acht
Hartz-IV-Empfängern an Pimp The City. Mit der ARGE
Job Center Mannheim und dem Gemeinschaftswerk Arbeit
und Umwelt e. V. wurde ein Team aus Langzeitarbeitslosen
zusammengestellt. Das Ziel: Mannheim zu pimpen, aufzumotzen. Die
beiden Männer vom Nationaltheater Mannheim hatten
bereits im November letzten Jahres die Reihe Making of The
Band entwickelt. Making of The Band war ein
halbdokumentarisches Format, das von vier Musikern handelte, die
Helden werden wollten, um die Stadt zu verändern. Dabei kam es
bereits zu einer Zusammenarbeit mit Hartz-IV-Empfängern. Das
reizte Solberg so sehr, dass er anschließend begann, an einer
neuen Idee zu arbeiten: „Wir wollten den Starkult umdenken und
in Menschen investieren, die am Rand stehen.“
Ulrich Manz, Geschäftsführer der ARGE
Job Center Mannheim: Pimp The City ist viel
individueller, als wir es innerhalb unseres gesetzlichen
Rahmes erreichen können.
Bei den 1-Euro-Jobs müssen wir darauf
achten, dass sie nicht die Anstellung eines normalen
Arbeitnehmers verhindern. Die Maßnahme innerhalb von Pimp
The City nimmt niemandem etwas weg und steht außerdem im
öffentlichen Interesse. Die Teilnehmer bekommen von uns die
monatliche Leistung von 120 Euro für die Arbeit im Projekt.
Die Regelleistung von 345 Euro und die Kosten der Unterkunft
werden natürlich weiterhin bezahlt.
In der Öffentlichkeit gibt es ein ganz bestimmtes Bild von
Langzeitarbeitslosen. Pimp The City ist ein
Gegenentwurf und zeigt einmal die Sicht der Betroffenen.
Momentan verhandeln wir mit dem Dramaturgen Volker Bürger,
das Stück den 330 Mitarbeitern des Job Centers zu zeigen.
Ich finde es wichtig, dass die Sachbearbeiter hier erkennen
können, zu welchen Leistungen die vermeintlich
Langzeitarbeitslosen in der Lage sind.
Pimp The City als Maßnahme ist viel individueller, als wir
es innerhalb unseres gesetzlichen Rahmes erreichen können.
Nach dem Ende des Projektes wollen wir das Feuer, das bei
jedem Teilnehmer geweckt wurde, zur Eingliederung in den
Arbeitsmarkt nutzen. Wir sollten dabei neue Wege wählen,
andere berufliche Werdegänge überlegen. Die Botschaft sollte
auch für andere Job Center sein, sich auf etwas einzulassen,
was nicht immer rechtlich ganz klar normiert ist. Auch wenn
dazu Mut gehört.
In der Jungbuscharena,
nach der Seebühne Luisenpark der zweite
Aufführungsort, wird den Zuschauern im Einstiegsfilm erklärt,
wie es zu Pimp The City kommen konnte. Dass eigentlich
nicht die Theatermacher auf diese Idee kamen, sondern sie der
Phantasie eines Arbeitslosen entsprungen ist: Norbert Leklou
sitzt im Job Center vor einem der Computer mit dem
Arbeitsstellenverzeichnis und fängt an, zu träumen. Der Traum
ist die Show, ist Pimp The City. Er ruft im Untergrund
seine Räuber zusammen, weil etwas verändert werden muss.
Nach diesem Auftakt wird das Publikum zu drei Stationen geführt.
Stefan Softer* erzählt
in einer Koch-DJ-Show sein Leben. Von Wulle, wulle Gänschen,
über Koks, bis zum letzten Entzug. Immer härter wird der Beat
aus den Boxen, so wie sich auch die Schlagzahl in seinem Leben
erhöhte. In einem Nebenraum folgt Sven Webers Film Soul
Fight über Drogen, Gewalt und Verbrechen. Zum Schluss
werden die Zuschauer nach draußen zu Birgit El-Aissaoui
geleitet. Als Prof. Dr. Dr. Birgit hat sie Mannheimer
Institutionen besucht, die Essen, Kleidung und Möbel für
bedürftige Mitbürger verkaufen. Sie wolle untersuchen, ob es den
Betreibern dieser Stellen wirklich darum gehe, den Menschen zu
helfen, erklärt El-Aissaoui.
Die gesamte Jungbuscharena ist angefüllt mit
Geschichten. In allen Ecken werden die Projekte der anderen
Teilnehmer präsentiert. Norbert Leklou zeigt seine Kunst und
sucht einen Mäzen. Andreas Schweizer stellt das Konzept für
einen Spielplatz auf der Schönau vor. Matthias Michaelis erklärt
Pimps Giving: Kulturveranstalter stellen
Kartenkontingente für Kino-, Theater und Museumsbesuche
bedürftigen Mannheimern zur Verfügung. Und irgendwo steht auch
immer Corrado Costarelli, der Pimp The City
fotografisch dokumentiert.
Dazwischen ein Trimm-dich-Pfad, der in mehreren
Übungseinheiten auffordert, Verantwortung zu übernehmen, einfach
mal Utopien zu spinnen oder die Ursachen zu bekämpfen. Die
letzte Ertüchtigung besteht aus Sandsäcken mit aufgeklebten
Bildern von Peter Hartz.
Den Abschluss des Abends bildet eine 45-minütige
Break-Dance-Show, die an Motive aus Schillers Der
Verbrecher aus verlorener Ehre angelehnt ist. Sinan Ozan
hat dafür aus seinem Freundeskreis die Gruppe Lost Fame
gegründet.
Volker Bürger, Dramaturg:
Stück für Stück den Arbeitsbegriff in unserer Gesellschaft
verändern.
Wir haben eine Begegnung gesucht mit dem
Friedrich Schiller, der mit 23 Jahren nach Mannheim gekommen
ist. Er war bedingungslos unzufrieden mit seiner Welt und
den politischen Verhältnissen. Aber ihn interessierte vor
allem der Mensch mit seinen Widersprüchen. In Die
Räuber geht es um Menschen, die in eine Randsituation
gedrängt werden. Aber sie alle tragen auch eine Schuld. Sie
entscheiden sich, illegal zu werden. Schließlich scheitern
sie jedoch an sich selbst und ihren Idealen.
Wir benutzen das Bild des Räuberlagers und das
Verbrechermotiv für Pimp The City. Im Vorwort von
Der Verbrecher aus verlorener Ehre schreibt Schiller,
er wolle keine Sensationslust beim Leser befriedigen. Im
Gegenteil. Er möchte sogar den Leser erkalten lassen, damit
dieser die Geschichte, den Lebensweg des Täters verstehen
kann. Für Schiller stand nicht das Verbrechen im
Mittelpunkt.
Im Theater geht es darum, Geschichten zu erzählen,
Prozesse offen zu legen, Widersprüche zu zeigen. Selbst wenn
wir mit unserem gesetzten Ziel, Arbeitsplätze für die
Beteiligten zu finden, scheitern, wurden trotzdem Fragen
aufgeworfen und erste Schritte unternommen: „Such‘ dir einen
Ort, an dem du selbst arbeiten kannst. Vertraue darauf, dass
dieser erste Schritt einen Stein ins Rollen bringen kann und
dir andere folgen werden.“ Vielleicht kann so Stück für
Stück der Arbeitsbegriff in unserer Gesellschaft verändert
und erweitert werden. Dass sich Arbeit nicht mehr so sehr
nach ökonomischen Gesichtspunkten definiert, sondern nach
dem, was sinnvoll ist in einer Gesellschaft. Und was dem
Talent und dem Interesse eines Menschen entspricht.
23. Mai. Volker Bürger trägt
Gummistiefel und steht auf dem Hof der Stadtentwässerung
Ludwigshafen. Er kommt gerade aus den Tiefen eines
Regenauffangbeckens, in dem Simon Solberg die Anfangssequenz für
Pimp The City dreht. Norbert Leklou sitzt seit Stunden
in einem winzigen roten Schlauboot und sucht sich die Räuber
zusammen.
Die Vorbereitungen kommen gut voran, aber es gibt auch
Rückschläge. Die Arbeit sei manchmal schwierig, wenn man etwa
jemanden darum bitten müsse, nicht zu trinken, erklärt Bürger.
Bei der Aufführung in der Jungbuscharena ist dann
einige Wochen später einer nicht dabei. Während der Proben war
der Mann schon einmal für fünf Tage komplett verschwunden. Sie
können es nicht verantworten, erklären Bürger und Solberg, ihn
auf die Bühne zu lassen, wenn er etwas getrunken habe.
Stefan Softer sitzt in der Cafeteria der Stadtentwässerung
Ludwigshafen und isst ein Stück Kuchen. Wenn Softer erzählt,
hört es sich manchmal so an, als ob seine Worte im nächsten
Moment einen Schwächeanfall bekommen. Nicht gequält, aber doch
müde. Während er von den falschen Entscheidungen in seinem Leben
erzählt, klingt er so abgeklärt wie der Vorstandsvorsitzende
eines großen Konzerns, der den Abbau von 10.000 Stellen
ankündigt. Ehrlich, aber kalt. Als betrachte er seine Biografie
aus einer sicheren Distanz.
Als es darum ging, Mannheim zu
pimpen, sich Aufgaben und Verbesserungsprojekte in der Stadt zu
suchen, entdeckte Softer spontan die Todesecke. Im
Hinterkopf hatte er noch den Tod einer Frau, die im letzten Jahr
auf einem Fahrradweg umgekommen war. Alle Bemühungen der
Anwohner den Fahrradweg sicherer zu machen, hatten zu keiner
Veränderung geführt. Softer griff selbst zum Telefon und sprach
mit dem Straßenverkehrsamt. Als absehbar war, dass auf diesem
Weg nichts passieren würde, mussten andere Mittel angewandt
werden.
In einer Nachtaktion installierten Volker Bürger und Simon
Solberg das Schild Radfahrer kreuzen und stellten
einen Papppolizisten auf. „Ich wollte dabei nicht mitmachen,
weil ich auf Bewährung bin“, erklärt Softer. Die Aktion blieb
nicht ohne Folgen, aber unbestraft. Das illegale Schild
verschwand und ein echtes wurde an exakt dieselbe Stelle
gehängt. Dem jungen Mann reichen diese Sicherheitsmaßnahmen
nicht aus. „Wenn in einigen Wochen noch nichts passiert ist,
rufe ich wieder an.“
Stefan Softer, 25, Koch: Ich will mir
das Glücksgefühl an meinem DJ-Pult zurückholen.
Mit den Drogen fing ich bei meiner
Ausbildung zum Koch an, als ich irgendwann keine Energie
mehr hatte. Ich wollte mir damit den Spaß zurückholen. Erst
konnte ich immer noch einfach aufhören und schloss meine
Ausbildung ab. Aber irgendwann brauchte ich die Drogen, um
zur Arbeit zu gehen. Zwangsläufig verlor ich meinen Job.
Die Leute wundern sich immer, dass ich so offen über meine
Drogenabhängigkeit spreche. Aber ich habe mir das ja selbst
ausgesucht und die Scheiße gebaut. Dann muss ich auch dafür
geradestehen. Ich lebe auf der Schönau, dort gibt es viele
ähnliche Lebensläufe. Wenn ich mir dort ein Projekt für Pimp
The City ausdenken wollen würde, wüsste ich nicht, wo ich
anfangen sollte. Das Konfliktpotenzial sammelt sich durch
die ganzen Sozialwohnungen.
Wenn ein Freund zu mir kommt, etwas auspackt und mir
anbietet, kann ich nicht nein sagen. Obwohl mir im Rausch
nur noch kurz warm wird. Aber das sind vielleicht fünf
Sekunden. Das Gefühl, einfach glücklich zu sein, wenn also
der Körper selbst Opiate herstellt, kenne ich gar nicht
mehr. Ich war früher ein fröhlicher Mensch, habe immer
gelacht. Das fehlt.
Nach dem Projekt werde ich bei meinen Eltern eine
Entgiftung versuchen. Wenn das nicht klappt, mache ich sie
stationär. Mein Ziel ist, erstmal von den Drogen
wegzukommen. Der nächste Schritt wäre ein kleiner Job, damit
ich mich wieder ans normale Leben gewöhne. Zwölf Stunden am
Stück, wie jetzt bei Pimp The City, hätte ich vor
einiger Zeit nie geschafft. Ich hoffe, ich kann dieses
Selbstbewusstsein aus dem Projekt mitnehmen.
Mein Traum ist es, später irgendwann als DJ zu arbeiten.
Das Gefühl, wenn ich auflege, ist unbeschreiblich. Musik ist
die beste Droge für mich. Früher habe ich stundenlang vor
meinem Plattenspieler gestanden und einfach nur aufgelegt.
Jetzt fehlen mir selbst dafür oft der Antrieb und die Lust.
Das Glücksgefühl will ich mir zurückholen.
24. Mai, Probebühne Neckarau. Im
Keller sitzt Simon Solberg Birgit El-Aissaoui gegenüber. Auf
einem Nebentisch liegt wie immer eine Kamera, die jede Regung
festhält. Heute ist El-Aissaoui gefasst. Gestern sah das noch
anders aus, als sie mit dem Job Center telefonierte und
nachfragte, was sie denn mit ihrer kaputten Waschmaschine machen
solle. Sie wäscht zwar noch, hört sich aber wegen eines defekten
Kugellagers wie ein alter LKW an, erzählte sie dem
Sachbearbeiter am Telefon. Dann legte sie auf, wandte sich zur
Kamera und sagte: „Ich bekomme keine Waschmaschine und die
Reparatur bezahlen sie auch nicht“, und fing an, zu weinen. Mit
einem Wink bat sie dann, die Kamera abzuschalten und ging raus,
um eine Zigarette zu rauchen.
Drei Wochen später klingt die Waschmaschine nicht mehr wie ein
LKW. Sie ist gleich ganz verstummt. Die nasse Bettwäsche liegt
ungewaschen in der Trommel und wird wohl auch nicht so schnell
sauber werden. Ein weiterer Anruf beim Job Center brachte auch
mit der neuen Situation keine andere Erkenntnis. Eine Reparatur
ist nicht in Sicht.
Birgit El-Aissaoui, 41: Ich will
eigentlich nur normal leben.
Bei meiner letzten Arbeit habe ich als
Servicekraft Regale geputzt. Zehn Stunden täglich. Dann
fingen die Probleme in den Füßen an. Ich bin auf acht
Stunden runter, weil ich es nicht mehr geschafft habe.
Später kam noch eine Schleimbeutelentzündung in den Knien
dazu. Ende 2004 war dann Schluss.
Die Probleme begannen schon früh in meinem Leben, als ich
wegen sexueller Belästigung meine Lehre in einer Bäckerei
abbrechen musste. Danach konnte ich lange Zeit in keinem
Betrieb arbeiten, in dem es männliche Vorgesetzte gab. Meine
Eltern haben mich in dieser Zeit finanziell unterstützt.
Ihnen erzählte ich aber nicht, was passiert war. Die
dachten, ich hätte nur keine Lust zu arbeiten.
Irgendwann hing ich dann aber wirklich durch. Ich wollte
nur noch zu Hause sein und Süßigkeiten in mich
hineinstopfen. Nichts interessierte mich mehr. 1995 merkte
ich, dass es so nicht weitergehen kann. Ich war
Sozialhilfeempfängerin und kam für eineinhalb Jahre in eine
Qualifizierungsmaßnahme. Danach folgten verschiedene
Anstellungen und Arbeitslosigkeit.
Mein Mann trinkt viel. Aber das liegt an unserer
finanziellen Situation. Glücklich sind wir momentan
eigentlich nicht. Die Umstände zerstören unsere Ehe. Ich
fühle mich bei Pimp The City deswegen so wohl,
weil ich abgelenkt bin, mit den Leuten reden und lachen
kann. Hier bekomme ich Halt.
Mein Traum ist es, einen Job zu haben und genug Geld zu
verdienen, dass es zum Leben reicht. Für das Arbeitsamt bin
ich wegen meines Gesundheitszustandes eigentlich nicht mehr
vermittelbar. Ich will nach dem Projekt zu der Organisation
Frauen und Beruf, die helfen Menschen wie mir, wieder
eine Arbeit zu finden. Ich habe keine großen Ansprüche mehr.
Ich möchte einfach nur normal leben. Ich bin selbst Schuld
an meiner Situation. Ich war eben dumm. Jetzt will ich, dass
es weitergeht.
In Birgit El-Aissaouis Film sind
Ausschnitte aus Interviews eingefügt, die Solberg mit ihr im
Laufe des Produktionsprozesses geführt hat. Aber die Kamera war
sowieso immer dabei, wenn das Team zusammenkam. Die Entstehung
des Stückes, mit allen Erfolgen, Rückschlägen und Konflikten,
wird damit Teil der Inszenierung.
Er sehe die Kamera auch als ein Schutz für die Teilnehmer,
erklärt Solberg. „Sich über das Bloßstellen auf der Bühne
Gedanken zu machen, ist immer omnipräsent. Die Arbeit bei Pimp
The City ist eine Gradwanderung und einige werden
vielleicht behaupten, dass man die Leute benutzen würde. Aber
ich finde es gut, dass die Arbeit irritiert. Der Zuschauer muss
sich selbst positionieren. Lache ich jetzt? Ist das ironisch
gemeint?“
Simon Solberg, Regisseur: Wo setzt
man an, wo radikalisiert man sich?
Ich mache Theater, weil mich
gesellschaftliche Prozesse interessieren. Wann, wo, wie
etwas falsch läuft. Wir leben in einer Gesellschaft,
in der soziales Gewissen verlorengegangen ist und nur noch
zählt, möglichst viel Geld anzuhäufen. Man fühlt sich als
Teil einer riesigen trägen Masse, die täglich verarscht
wird, sich darüber bewusst ist, aber nicht auf die Straße
geht. Die Frage ist: Wo setzt man überhaupt an, wo
radikalisiert man sich?
Es muss darum gehen, sich immer weiter aus dem Fenster zu
lehnen. Utopien immer genauer zu spinnen, um irgendwann an
einen Punkt zu kommen, an dem man positiven Druck ausübt und
andere zum Mitmachen bewegt.
Bei Pimp The City standen von Anfang an die
Teilnehmer im Mittelpunkt – ihre persönliche Lebenssituation
jetzt, heute, hier in Mannheim. In das Projekt sind wir
gestartet, mit dem Wunsch für jeden einen Job zu finden. Wir
haben angefangen, Bewerbungen zu schreiben und über
vermeintlich dumme Fragen aus unserem Elfenbeinturm heraus,
uns dem Thema zu nähern: Was sind die Gründe für die
Arbeitslosigkeit? Natürlich wurden uns die Komplexität der
Hartz-IV-Problematik und die ganz persönlichen Auswirkungen
für jeden einzelnen erst in den Gesprächen mit den
Teilnehmern bewusst. Auch wenn die Baustellen bei jedem
täglich mehr wurden und noch viele davon offen liegen, hoffe
ich doch, dass wir das Selbstbewusstsein bei jedem pimpen
konnten.
Die mögliche Leere bei den Teilnehmern direkt nach dem
Projekt wird wahrscheinlich nicht ausbleiben. Aber soll man
deswegen die Arbeit gar nicht erst machen? Wir werden uns
regelmäßig weiter treffen, in der Hoffnung, dass jeder
Beteiligte von Pimp The City erfährt, dass sie die
Energien, die sie im Projekt entwickelten, selbst
aufgeworfen haben. Die Grundschwierigkeit, einen Job im
herkömmlichen Sinne zu bekommen, ändert sich durch das
Projekt natürlich nicht. Aber es kann jedem neue Horizonte
öffnen, sich selber sinnvolle Arbeit zu suchen und Leute zu
finden, die bereit sind, diese zu bezahlen. Meiner Meinung
nach braucht der Mensch Arbeit als eine Aufgabe und
Selbstbestätigung. Beides bekommt er nicht unbedingt durch
Lohnarbeit.
Nach der Aufführung in der Jungbuscharena
erklärt ein Zuschauer, dass er sich frage, ob man so etwas wie Pimp
The City aufführen müsse oder ob das nicht einfach
Sozialarbeit sei? „Wenn ich mich über Hartz IV informieren will,
kann ich NTV schauen“, fügt er hinzu. Simon Solberg
wird später über diese Einschätzung sagen, dass der Mann wohl
das Funkeln in den Augen der Teilnehmer nicht gesehen habe.
Die Aussage des Mannes bleibt die einzige Stimme, die
vollkommenes Unverständnis ausdrückt. Viele aus dem Publikum
sind zwar von der Fülle des Angebots an Geschichten etwas
überfordert, aber dennoch steht für sie fest, dass hier ein Team
aufgestanden ist, um sich einzusetzen, um Haltung zu zeigen.
Nicht bemüht, sondern chaotisch engagiert.
Gib der Welt, auf die du wirkst,
die Richtung zum Guten,
so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen.
Friedrich Schiller
Über die ästhetische Erziehung des Menschen
* Name geändert
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Die Arbeitslosen gehen in den
Untergrund.
Regisseur Simon Solberg arbeitet
mit Norbert Leklou an seinem Text.
Der gesamte Entstehungsprozess von
PIMP THE CITY wurde gefilmt.
Den Abschluss des Abends bildet
eine 45-minütige Break-Dance-Show,
die an Motive aus Schillers Der Verbrecher aus verlorener
Ehre angelehnt ist. Sinan Ozan hat dafür aus seinem
Freundeskreis die Gruppe Lost Fame gegründet.
Simon Solberg: "Ich mache Theater,
weil mich gesellschaftliche
Prozesse interessieren. Wann, wo, wie etwas falsch läuft.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der soziales Gewissen
verlorengegangen ist und nur noch zählt,
möglichst viel Geld anzuhäufen."
Fotos: Tim Meyer
Der Text entstand im Rahmen eines
Recherchestipendiums
der Kulturstiftung
des Bundes für das
Theaterprojekt PIMP THE CITY (Nationaltheater Mannheim)
im Juni 2007.
Interview
Den
Kapitalismus
mit Kunst unterwandern
Regisseur Simon Solberg über sein
Theaterprojekt Pimp The City und Radikalität.
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