Das Radio als Tor zu einer
aufbereiteten Welt

Josef Arens ist von Geburt an blind. Das hat ihn jedoch nie davon abgehalten, sein Leben so zu leben, wie er es möchte.

Zehn Jahre lang lebte Josef Arens in einem Gefängnis. So nennt er die Blindenschule in Paderborn. „Die Schule war sehr gut, aber wir durften nicht allein raus", erzählt er. „Wir wurden nicht auf die Welt vorbereitet." Bitter ist er trotzdem nicht geworden.
Wenn Josef Arens erzählt, wandern seine Hände über den Tisch. Fühlen sich vor. Er betastet den Kerzenständer mit dem Teelicht, den Docht und einen Briefumschlag daneben. Seine Hände sind groß und seine Finger sehen weich aus. Er kneift die Augen zusammen, weil ihn das Licht des Fensters blendet. Nachdem er den Rollladen halb geschlossen hat, entspannt sich sein Gesicht.
Josef Arens ist von Geburt an blind. Er kann nur die Umrisse einer Person erkennen oder das Display seines Radios, wenn er es schon fast mit der Nase berührt. Aber dafür darf es nicht zu hell im Raum sein. Abends um zehn Uhr ist das Licht für ihn angenehm. Was er genau sieht, kann er nicht beschreiben. „Ich sehe, dass Sie dort sitzen." Aber er braucht einen Menschen nicht zu sehen, um ihn zu charakterisieren. „Ich achte bei den Leuten eigentlich nur auf die Stimme", sagt Josef Arens. „Die sagt alles."
Aufgewachsen ist der 63-Jährige in Oberveischede. Dort lebte er bis zu seinem achten Lebensjahr. Dann ging er ins Internat der Blindenschule nach Paderborn und war nur in den Ferien bei seiner Mutter. Seinen Vater hat er nie kennen gelernt. Er ist seit dem Zweiten Weltkrieg in Italien vermisst.
In der Schule nicht auf die Welt vorbereitet zu werden, bedeutete nicht, dass die Schüler gar nicht rausgingen. Aber sie durften nicht alleine in die Stadt. Die Blinden waren unter sich und lernten nicht, sich in die Welt der Sehenden zu integrieren. Josef Arens machte seinen Realschulabschluss und die Ausbildung zum Telefonisten und Stenotypisten. Was ein Leben sonst noch ausmacht, blieb außen vor.
Nach der Ausbildung wäre Josef Arens eigentlich gerne an den Rand einer Stadt gezogen, um auch mal ins Theater oder Kino gehen zu können. Der Kontakt zu den Menschen ist ihm wichtig. Er entschied sich aber für seine Mutter und Helden. Seit 45 Jahren lebt er jetzt hier in dem Haus, davon 29 Jahre alleine.
Als seine Mutter starb, hinterließ sie ihm einen nicht fertiggestellten Anbau. Josef Arens musste sich plötzlich um alles kümmern und die Handwerker organisieren. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie ein Zimmer eingerichtet werden muss. Aber irgendwie schaffte er es. Und er bekam damals auch Hilfe von seiner Tante. Heute unterstützt ihn eine Putzfrau, die einmal pro Woche saubermacht, die Wäsche mitnimmt und manchmal Möbel zusammenbaut. Alles andere kann er selbst. Einkaufen mag er sogar gerne, weil er sich zurechtfinden muss. Es ist eine Herausforderung.

Er ist ein Musikjunkie

Josef Arens lebt im Erdgeschoss seines Hauses. Die obere Etage ist verkauft. Aber viel Platz benötigt er sowieso nicht. Er verbringt den Tag fast ausschließlich in einem Raum. Dort befindet sich in einer Ecke schlauchförmig die Küche, gegenüber steht sein Computer, daneben ein Sessel vor diversen Radios, CD-Playern und Satellitenempfängern. Auf der anderen Seite der Esstisch, auf dem sich Zeitschriften in Punktschrift stapeln. Josef Arens nimmt sich eine und legt sie sich auf den Bauch. „Soll ich Ihnen etwas vorlesen?" Mit den Fingern tastet er im Inhaltsverzeichnis über die Kombinationen aus winzigen Punkten. Er liest schnell. Vielleicht ist er so gut, weil er zwanzig Jahre lang die englische Hitparade auf seiner Punktschriftmaschine abtippte.
Josef Arens ist ein Musikjunkie. Über den Flur geht es in sein Archiv. Alles fein nach Genres sortiert. In der Mitte des Zimmers ein Haufen Singles, für die noch kein Platz gefunden ist. Und es kommen immer neue CDs dazu. 2 000 LPs, 4 000 Singles und 3 000 CDs. Wenn Josef Arens eine bestimmte CD hören will, weiß er in etwa, wo sie steht. Dann benutzt er seine Lupe, einen Fadenzähler, um den Titel zu erkennen oder er legt sie einfach auf. Manchmal muss das mühsam sein.
Popmusik ist für ihn eine Industrie. An Reggae und Soul hängt sein Herz. Desmond Dekker, Dandy Livingstone. „Ich gehe auch gerne ins Konzert, aber hier am Arsch der Welt ist es manchmal schwierig." 1982 schaffte er es zu Stevie Wonder nach Dortmund. „Das war schön, aber schrecklich laut." Dass Stevie Wonder auch blind ist, interessiert ihn eigentlich nicht. Aber Josef Arens hört nicht nur Musik, er spielt auch im Musikverein Helden Horn und begleitete 20 Jahre lang die örtliche Tanzkapelle am Bass. Auch Gitarre und Klavier hat er gelernt. Musik bedeutet für ihn, unter Menschen zu sein.
Trotz seiner Leidenschaft legt sich Josef Arens selten CDs auf. Er hört lieber den ganzen Tag Radio. Vier Satelliten zapft er an und bald will er noch ein Internetradio an seine Hi-Fi-Anlage anschließen. „Ich hole mir natürlich eine aufbereitete Welt ins Haus, eine Pseudowelt", meint er. „Man muss sich dessen bewusst sein und unterscheiden können." Im fällt bei Sehenden öfter auf, dass sie gar nicht richtig zuhören und die Dinge so verstehen, wie sie es gerade wollen. „Sie hören oft nur oberflächlich zu." Für ihn ist es Albtraum, wenn er plötzlich taub wäre. „Dann gäbe es ja nichts mehr."
In dem Jahr, als Josef Arens' Mutter starb, wechselte er auch seine Arbeitsstelle. Zuvor im Schreibdienst bei einer Firma für Sanitärarmaturen beschäftigt, saß er danach in der Telefonzentrale der Stadt Attendorn. Beide Jobs waren für ihn mehr oder weniger monoton. Im Telefondienst arbeitete er trotzdem lieber. „Bei einem Gespräch bekommt man von seinem Gegenüber sofort ein Echo." Wenn sich etwa jemand für die Hilfe bedankte. Am Telefon war er nicht nur mit sich allein. Andererseits war es für ihn immer wichtig, eine Arbeit zu haben, bei der er nicht auf viel sehende Hilfe angewiesen ist. Um Beamter zu werden, hätte er die Augen eines anderen gebraucht. Das wollte er nicht. Es gibt etwa blinde Richter, die so arbeiten, erzählt er. Überhaupt sei heute vieles anders als zu seiner Schulzeit. In Marburg können blinde Schüler ihr Abitur machen und später studieren. Trotzdem sind viele anschließend arbeitslos.

Allein nach Australien

Vielleicht sind es diese Erfahrungen, die sein Engagement in der Selbsthilfe beförderten. Seit 1963 ist Josef Arens Mitglied im Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen, von 1979 leitete er für 25 Jahre die Bezirksgruppe Olpe. Er wollte mit seiner Arbeit im Verein Blinde darin bestärken, selbständig zu sein. Heute geht er noch immer jeden zweiten Dienstag im Monat zum Stammtisch. Er lebte die Selbstständigkeit auch vor. Dreimal war er in Australien. Schon damals in der Schule hatten sie ihm einen englischen Brieffreund vermittelt. Der besuchte ihn 1965 zum ersten Mal in Deutschland, später, als der Mann nach Australien ausgewandert war, reiste Josef Arens vor zwanzig Jahren alleine für sechs Wochen auf den fünften Kontinent. Sein Freund zeigte ihm alles, ließ ihn fremde Pflanzen befühlen und ein Känguru streicheln. An der Wand über seinem Esstisch hängt ein Kängurufell und an der Schlafzimmertür ein Bumerang. In Schweden, Italien, auch in den USA war er zweimal und mehrmals in England.
Mixy kommt ins Zimmer und bellt. Seit 14 Jahren hat Josef Arens die kleine Mischlingshündin. Dann schaltet er den Computer ein, legt die Finger auf die Braillezeile und wartet, bis sich die Computerstimme meldet. Was für einen Sehenden auf dem Bildschirm sichtbar wäre, ertastet Josef Arens Zeile für Zeile auf der rund 30 Zentimeter langen Schnittstelle oder lässt es sich vorlesen. Pling. Eine E-Mail. Dann schaltet er den Dienst „SatelliFax" ein und liest die aktuellen Nachrichten.
Auch Beziehungen war Josef Arens nicht abgeneigt. Er hatte blinde Freundinnen, aber es ist nie etwas Festes daraus geworden. „Ich war verlobt, doch sie hatte zu wenig Courage, aus dem Münsterland hierher zu ziehen." Und mit einer Sehenden wäre er keine Beziehung eingegangen. Er hätte Angst gehabt, dass sie ihm irgendwann vorhält, doch nur aus Mitleid mit ihm zusammen zu sein.
„Mich hat es noch nie gestört, dass ich sehbehindert bin", sagt Josef Arens. Nur auf eine Sache ist er wirklich neidisch. Wenn sich andere Menschen mit Blicken verständigen. Und er mag es nicht, wenn ihm jemand unbedingt Hilfe aufdrängen möchte, wo keine nötig ist. „Wenn mich einer zu fest anfasst, sage ich immer: Ich will nicht ins Gefängnis." Ihm reicht es, wenn er ganz leicht den Ellenbogen berührt und hinter jemanden hergeht. Als Jugendlicher lief er oft weg, wenn er ungefragt Hilfe bekam. Das hatte manchmal schmerzliche Konsequenzen zur Folge, weil er eine Treppe hinunterfiel. „Heute denke ich an den Pfadfinder, der noch seine gute Tat zu erledigen hat", sagt Josef Arens und lacht.

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Fotos: Tim Meyer

© Westfalenpost, 30. Juli 2008