Übergewicht ist kein
Schicksal für Dumme


Ärzte der Bad Berleburger Rothaarklinik
über Verzehrstudie und Konditionierung

In der vergangenen Woche stellte Bundesverbraucherminister Horst Seehofer die erste bundesweite Verzehrstudie vor. Ein Fazit: Niedriger sozialer Status erhöhe das Risiko für Übergewicht. Dr. Jochen Wehrmann, Chefarzt der Rothaarklinik für psychosomatische Erkrankungen, und Karin Geißler, Ärztin auf der Station für Essstörungen, erklären im Interview, was sie von den Ergebnissen der Studie halten und wo ihre Arbeit ansetzt.

WESTFALENPOST:  Sind viele Menschen einfach zu dumm, um sich richtig zu ernähren?
Jochen Wehrmann: Nein. Es ist sicherlich keine Frage der Intelligenz sondern des Informationsstandes, sich gesund zu ernähren. Man muss das differenzieren. Es gibt viele Faktoren, die zu Übergewicht beziehungsweise zu Essstörungen führen.
Karin Geißler: Wir arbeiten parallel mit einer Analyse der psychischen Ursachen und einer Ernährungsberatung. Die Ursachen sind meist nicht schichtspezifisch oder abhängig von der Intelligenz. Es gibt Menschen, die ein sehr gutes Ernährungswissen haben, es aber dennoch nicht schaffen, ihre Ernährung gesund zu regeln. Faktoren für falsches Essverhalten sind neben fehlendem Ernährungswissen etwa die Werbung, aber auch gefühlsbedingtes Essen zur Spannungsregulation.

Frage:  Kochshows im Fernsehen sind momentan sehr beliebt. Ist das ein Zeichen dafür, dass sich die Leute vielleicht auch privat wieder mehr Gedanken ums Essen machen?
Wehrmann: Es kommt trotz der Beliebtheit darauf an, wie viele sich zum Kochen animieren lassen. Ich beobachte etwas anderes: Früher nahm man sich ins Kino vielleicht ein Getränk mit, heute gibt es eimerweise Popcorn. Es muss viel sein, und das muss auch alles aufgegessen werden. Appetit und Hunger spielen eine untergeordnete Rolle. An diesem Konsum vorbeizukommen, ist für eine bestimmte Gruppe schwierig. Sie sind konditioniert. Wir nennen das auch einen Triggerfaktor. Das Kino ist der Auslöser für ein bestimmtes Essverhalten. Das gibt es natürlich auch in vielen anderen Situationen, wie etwa das Bier zur Sportschau.

Frage:  Wie könnte denn ein Ausweg aus solchen konditionierten Essgewohnheiten aussehen?
Wehrmann: Ich habe zum Beispiel meine Kinder so erzogen, dass sie ihren Teller nicht leeressen müssen. Sie sollen auf ihren Hunger und auf den Geschmack achten. Genusstraining ist auch hier in der Klinik ein wichtiger Therapiebestandteil. Letztendlich geht es darum, den Patienten die Möglichkeit der eigenen Entscheidung zurückzugeben, damit sie nicht mehr von einem äußeren Erwartungsdruck abhängig sind. Andererseits darf keinem Übergewichtigen gesagt werden: Nimm doch einfach ab! Man muss ihn im Kontext seiner Lebenssituation betrachten. Übergewicht ist kein Schicksal.

Frage:  Die Einordnung der Studie folgte dem Body-Mass-Index (BMI). Er wird errechnet aus dem Gewicht, geteilt durch die zum Quadrat genommene Körpergröße in Metern. Ein BMI von mehr als 25 bedeutet Übergewicht, ab 30 spricht man von Adipositas (Fettsucht). Wie sehen Sie diese Einteilung?
Wehrmann: Bei uns fängt die Arbeit erst bei einem BMI von 30 an. Andernfalls beginnt man zu früh, eine geringe Form des Übergewichts als krankhaft zu betrachten. Durch eine derartige Pathologisierung können wiederum andere psychische Krankheiten entstehen. Man muss schauen, was hinter dem Übergewicht steckt und welche Auswirkungen es hat. Wenn es etwa zu körperlichen Erkrankungen führt, ist eine Therapie wichtig.
Geißler: Es steigt ja nicht nur der Anteil der Übergewichtigen, sondern auch die Anzahl der Menschen mit Bulimie. Mir macht es Sorgen, dass Ideale - wie auch der BMI - und Anforderungen immer mehr zunehmen, und die Möglichkeit, sie zu erreichen, immer schwieriger für junge Menschen wird. Das kann zu Essstörungen führen. Die Zahl derer, die ein unbeschwertes Verhältnis zum Essen haben, wird weniger.
Wehrmann: Was ist überhaupt ideal? Es gibt ein Schönheitsideal, ein Verhaltensideal - und alle die dort nicht hineinpassen, werden in irgendeiner Form marginalisiert, ausgegrenzt. Gewicht und Gesundheit haben heute einen hohen Stellenwert bei den Menschen, viele definieren darüber Glück und Zufriedenheit.

Frage:  Wie sehen denn die ersten Zeichen aus, bei denen man sich Gedanken über das eigene Essverhalten machen sollte?
Wehrmann: Man sollte sich selbst fragen: Esse ich, weil ich Appetit oder Hunger habe, um den Teller leer zu essen oder weil ich damit ein unangenehmes Gefühl zu verdrängen versuche? Bevor man etwas an eigenen Ernährungsgewohnheiten ändern kann, muss man sie zuerst differenziert wahrnehmen.


HINTERGRUND

Erste bundesweite Verzehrstudie


Für die erste bundesweite Verzehrstudie des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wurden bis Januar 2007 fast 20 000 Personen zwischen 14 und 80 Jahren zu ihren Ernährungsgewohnheiten befragt. Es wurden etwa Daten zum Ernährungswissen, dem Einkaufsverhalten und den Kochfertigkeiten erhoben. Die Studie belegt, dass 66 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen übergewichtig sind. Jeder Fünfte sei adipös (fettsüchtig) und damit gefährdet, an Herz-Kreislauferkrankungen oder Diabetes zu erkranken. Es wurde auch festgestellt, dass sich ein geringes Haushaltseinkommen und geringer Bildungsgrad auf das Gewicht auswirken. Unter den Männern mit Hauptschulabschluss waren knapp 75 Prozent übergewichtig oder sogar fettsüchtig. Bei Männern mit Abitur sind es dagegen nur 55 Prozent. Bei Frauen mit Hauptschulabschluss wurde ein Anteil von 66 Prozent Übergewichtiger festgestellt, unter den Frauen mit Abitur waren es nur 33 Prozent. In der Kritik zu der Studie heißt es, dass die Grenzen für das Normalgewicht, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und medizinischen Fachorganisationen aufgestellt wurden, sehr eng gezogen seien. Diese Ansicht äußert auch Dr. Jochen Wehrmann im Interview.



Chefarzt Dr. Jochen Wehrmann. 



 
Karin Geißler, Ärztin auf der Station für Essstörungen.
Fotos: Tim Meyer




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© Westfalenpost, 8. Februar 2008