Das Leben ist doch
nicht aus Zuckerwatte

Marc Klemrath arbeitet als Kellner, liest gerne Fantasy-Bücher und genießt die Momente auf dem Gipfel eines Berges

Die Wände sind kahl, weiß und unberührt. Die Küchenzeile, der Esstisch, die Eckbank - alles wirkt wie ein Fremdkörper. Als hätte diesen Raum nach dem Einzug niemand mehr betreten. Marc Klemrath wohnt seit fast einem Jahr in dieser Wohnung. Zuhause - das ist für ihn bei seinen Eltern.
Wenn er einen Tag bei ihnen war, die Geborgenheit genossen und seine Wäsche gewaschen hat, will er wieder zurück in seine Wohnung. Er braucht Ruhe. Marc Klemrath sieht sich als Einzelgänger und saß in der Schule am liebsten allein in der letzten Reihe. Wenn die Lehrer ihm einen Tischnachbarn zuteilten, wurden seine Noten schlechter. „Ich war zu kontaktfreudig." Der 25-Jährige ist gerne mit Menschen zusammen, aber er braucht sie nicht, um glücklich zu sein.
Mit 15 wusste Marc Klemrath, dass er auch beruflich etwas mit Menschen machen möchte. Zuerst dachte er an Pastor, weil ihn der Geistliche, der ihn konfirmiert hatte, so beeindruckte. „Der hatte Feuer und war nicht konservativ", erzählt er. „Und ich höre mich selbst gern reden." Die Idee scheiterte daran, dass er nur das Fachabitur schaffte und sein Glauben nicht eisern genug ist.
Danach wollte er Polizist werden. Aber das redete ihm seine Mutter aus. Vielleicht war das gut für ihn. „Es gibt nur wenige Dinge, die mich wütend machen", sagt er. „Wenn Verbrecher zu wenig bestraft werden oder wenn ein Mensch verletzt wird, den ich mag." Er weiß nicht, ob er sich in dem Beruf immer hätte bremsen können.

Nie wieder Opfer sein

Er erinnert sich an einen Abend, als er sich mit einem Arbeitskollegen auf die Suche nach einer Gruppe machte, die kurz zuvor seine Freunde angegriffen hatten. Marc Klemrath trug einen Schlagstock bei sich. Als Kind war er in der Schule verprügelt worden und hatte sich damals geschworen, nie wieder Opfer sein zu wollen. Es war sein Glück, dass sie die Angreifer an jenem Tag nicht fanden. „Ich hätte mir bestimmt derben Ärger eingefangen."
Am Ende entschied sich Marc Klemrath für die Gastronomie. Auf der Burg Schnellenberg hatten sie ihm nach einem Wochenende Probearbeit eine Ausbildung zum Hotelfachmann angeboten. Er nahm an. Drei Jahre lang lernte er in allen vier Arbeitsgebieten: Zimmer reinigen, Küche, Büro und Service. Der Service, das Kellnern, lag ihm besonders. „Ich arbeite einfach gerne mit den Händen." Er bekam direkt nach der Ausbildung eine Festanstellung. Seit vier Jahren ist er jetzt Geselle. Ihn reizen an seinem Beruf die Kontinuität der Tätigkeit, die individuellen Anforderungen bei den unterschiedlichen Gästen und die Gespräche. Wenn er bei einem Gast spürt, dass er nicht sein Standardprogramm abspulen kann, sondern Spezialwissen gefragt ist. Wenn er Zubereitungsarten erklären oder Empfehlungen geben muss. Spannend findet er auch, wenn Geschäftsleute von ihrer Arbeit erzählen. Es ist der Kontakt zu Menschen, die er sonst nicht kennen lernen würde.
Natürlich komme auch Routine auf und manchmal sei die Arbeit wirklich stressig. Ein älterer Oberkellner musste gerade nach zwei Herzinfarkten seine Stelle aufgeben. Für Marc Klemrath gehören die positiven und negativen Aspekte seines Berufs zusammen. Langweilig ist es für ihn nur, wenn ein Ausflugsbus mit älteren Damen kommt. „Alle bekommen eine Apfelschorle, sie bestellen ein Gericht und reden nur mit sich selbst", erzählt Marc Klemrath. „Das ist langweilig, weil nichts passiert."

Wut und Liebe

Ein Kellner müsse auf jeden Fall zupacken und wegstecken können. „Danke" und „Bitte" sei nicht unbedingt der gängige Umgangston bei der Arbeit. Manchmal ärgert er die Auszubildenden, um sie abzuhärten. Und weil es ihm Spaß macht. „Sie müssen lernen, dass das Leben keine Zuckerwatte ist", meint er. „Sie sind zu behütet." Er ist anders aufgewachsen.
Er verschränkt immer wieder die Arme, während er erzählt. Als müsste er etwas zurückhalten, was er nicht rauslassen möchte. „Wut und Spaß kann ich zeigen, aber mit tieferen Gefühlen wie Trauer oder Liebe habe ich Schwierigkeiten", erzählt er. „Vielleicht liegt es daran, dass sich meine Eltern scheiden ließen, als ich elf Jahre alt war." Nach der Scheidung waren er und seine drei Brüder zu Hause oft auf sich allein gestellt und sie mussten ihre Mutter viel unterstützen. „Wir lernten, Verantwortung zu übernehmen." Das änderte sich erst wieder, als seine Mutter nach vier Jahren seinen heutigen Stiefvater traf.
Im Raum neben der Küche liegt sein Wohnzimmer. Ein Ecksofa, ein Regal mit Büchern, eines mit DVDs, Fernseher, Schreibtisch und Computer. Aus den Minilautsprechern neben dem Monitor kommt rauschender Wind. Die Heldin aus dem Spiel Resident Evil steht gerade an einer Kluft. Marc Klemrath hat auf Pause gestellt. An dem flachen Tischchen in der Mitte des Raumes isst er meistens. Am Küchentisch hat er bisher nur einmal gefrühstückt. Er benutzt ihn heute nur noch, um Waffeln oder Kuchen nach den Rezepten seiner Mutter zu backen.
Auch im Wohnzimmer sind die Wände fast kahl. Ein paar Bilder stehen auf dem Schrank am Fernseher und über dem Schreibtisch hängen zwei Glasrahmen mit mehreren Fotos. Umarmungen, Ausgelassenheit und junge Frauen, die mit bunten Wellnessmasken im Gesicht in die Kamera grinsen. Wegen dieser Momente ist Marc Klemrath vor vier Jahren hier geblieben. Als er die Ausbildung abgeschlossen hatte, kamen neue Lehrlinge, mit denen er sich sofort sehr gut verstand. Das wollte er nicht missen.

Das Berggipfelgefühl

Unter den DVDs im Regal stehen Dr. House, Die zwölf Geschworenen, Dirty Dancing. Besonders gerne mag er Filme, die eine tiefere Aussage und Realitätsbezug haben. In seinem Bücherregal regiert dagegen die Fantasie. David Eddings ist sein Lieblingsautor. 1 000-Seiten-Schinken, auf deren Umschlägen Frauen mit weiten Gewändern und tapfere Kämpfer mit Schwertern zu sehen sind. Und ganz oben stehen alle sieben Harry Potter Bände. Die ersten fünf Teile hat Marc Klemrath siebenmal, die anderen beiden Bücher zwei- und dreimal gelesen. „Ich würde nie Geld für ein Buch ausgeben, wenn ich es nur einmal lese."
Vielleicht ist seine Wohnung für ihn nur eine Art besseres Schlafzimmer, weil er so selten zu Hause ist. Er steht um zehn Uhr auf, fängt eineinhalb Stunden später an, zu arbeiten und hat gegen 23 Uhr Feierabend - wenn er Spätdienst hat um zwei Uhr. „Eigentlich schlafe ich nur hier oder fröne meinen Hobbys - lesen, Computer spielen, DVDs gucken", sagt Marc Klemrath. Er sei anspruchslos. Wenn er denkt, er braucht etwas, um sich vollkommen glücklich zu fühlen, zieht er seine Wanderschuhe an und geht los. „Wenn ich auf einem Berg stehe, genieße ich einfach den Moment. Man fühlt sich frei." Wie an dem Tag als er die 1 985 Meter des Kramers überwunden hatte, am Gipfelkreuz stand und die Wolken an ihm vorbeizogen.

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Fotos: Tim Meyer

 

© Westfalenpost, 5. August 2008