Fantasien eines Postboten

Kersten Flenter und Christoph Knop entführen leidenschaftlich in die Welt von Charles Bukowski und Tom Waits

HILDESHEIM. Am Anfang ist die Flasche Müller-Thurgau zu und voll. Am Ende ist sie – na was wohl? – leer. Eine physische Annäherung an den Literaten und Säufer Charles Bukowski. Denn immerhin sei der Müller-Thurgau der Lieblingswein des Schriftstellers gewesen, erzählt Kersten Flenter.
Aber es wird schnell klar, dass es dem Vorleser in seinem Programm nicht darum geht, sich an den drastischen Sexbeschreibungen und Trinkeskapaden des „dirty old man“ zu weiden, sondern einen ehrlichen, witzigen Haudegen zu zeigen, der den Fokus eben auf die dunkleren Gassen des „American Way Of Life“ gerichtet hatte. Und nicht zuletzt sind es auch die von Christoph Knop mit Gesang, Akkordeon und Gitarre großartig interpretierten Songs von Tom Waits, die die Geschichten von Charles Bukowski so wunderbar ergänzen und ebenfalls davon erzählen, dass manchmal auch in einer scheinbar kaputten Existenz ein Funke Schönheit und Hoffnung stecken kann.

Kersten Flenter liest so gut, dass man manchmal vergisst, die Texte eines anderen präsentiert zu bekommen.
Foto: Tim Meyer

Kersten Flenter liest aus Bukowskis früher Kolumne „Notes Of A Dirty Old Man“, in der dieser etwa seine eigenen Erfahrungen als Postbote verarbeitete und alte Damen auftreten lässt, die Werbesendungen nicht wollen oder meckern, weil ein bestimmter Brief immer noch nicht da ist. Kersten Flenter gibt diesen alten Schachteln einen schönen, hysterischen Tonfall. So wird sich Bukowski dieses Personal vorgestellt haben. Überhaupt schmeißt sich der Flenter in die Texte und macht sie sich wirklich zu Eigen. Ja, er macht das so gut, dass man manchmal vergisst, die Texte eines anderen präsentiert zu bekommen. Zwischendurch steht er immer wieder auf, leert mal ein Weinglas am Bühnenrand in einem Zug, beißt wild in eine Wassermelone und sagt so etwas wie, dass die Sauferei das Universum sei. Auch diese theatralen Momente sind gut, gerade weil darin ein selbstironischer Bukowski zu erkennen ist und Flenter nach stärker mit dem Autor verschmilzt.
Man bekommt wirklich Lust, mal wieder Charles Bukowski zu lesen. Vor allem als Kersten Flenter eine Stelle aus dessen Tagebüchern „Den Göttern kommt das große Kotzen“ vorliest. Dort schreibt er: „Die Entscheidung fürs Konventionelle raubt ihnen das Feuer“ und meint damit Autoren und Journalisten. Bukowski selbst brannte immer und so eine heftige Flamme geht dann eben etwas früher aus. Er starb mit 73 Jahren. Dann singt Christoph Knop „Hang Down Your Head“ von Tom Waits und alles wird noch viel bitter-süßer.
Das Litteranova beweist mit diesen Abend wieder einmal sein Gespür für leidenschaftliche Künstler und spannende Unterhaltung. Es ist dem Laden in der Wallstraße zu wünschen, dass sich noch mehr Menschen für sein Angebot interessieren, damit sie den Mut für dieses ambitionierte und lohnenswerte Programm nicht verlieren.

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Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 16. Juni 2009


Ein Erdbeben lässt die Gefühle verstauben

Drei Belgier zeigen mit „Known Some Call Is Air Am“ eine verworrene Welt nach der Katastrophe

HILDESHEIM. Was wäre, wenn plötzlich alles anders ist? Man spürt, irgendetwas stimmt nicht, aber es ist nicht zu benennen. Traumatisiert von einer Katastrophe, die Erinnerungen gelöscht, jedes Gefühl unter einer dicken Staubschicht verschüttet.
Die drei Belgier Bas Devos, Michiel Soete und Jeroen Vander Ven laden im Rahmen des „transeuropa“-Festivals zu einer schrecklich-schönen Erkundungstour in ein zerstörtes Haus ein und zeigen drei Männer, deren Leben wie die Einrichtung durcheinandergewirbelt wurde. Doch sie selbst haben keinen Blick für die Löcher in den Decken, für die umgestürzten Sessel. Bis sie langsam beginnen, sich über kleine Details zu wundern.
„Known Some Call Is Air Am“ lässt sich Zeit. Hier gilt es nicht, den Zuschauer mit lauten Effekten zu überrumpeln, sondern man wird mit einer intelligenten Inszenierung ins Innere der Katastrophe gezogen. Mit einer Taschenlampe werden die Zuschauer zu Bierzeltbänken geführt und man sieht langsam hinter dem Fenster die Sonne aufgehen. Dann wird der Raum sichtbar: überall Nebel, Staub, Zeitungen, Müll. Eine Stimme erzählt, es habe ein Erdbeben gegeben, die Menschen mussten in einer Turnhalle Schutz suchen, aber jetzt können sie zurück in ihre Häuser.
Von einem Raum geht es in den anderen, überall das gleiche Bild der Zerstörung. Dann wirft Jeroen Vander Ven die Tür ins Schloss und wundert sich, dass sie wieder auf geht. Er misst mit dem Zollstock, überprüft einen anderen Raum mit der Wasserwaage - wortlos. Auch wenn er wie die anderen das Unglück nicht erkennt, versucht er doch, der Sache auf den Grund zu gehen. Im Nebenraum legt sich Michiel Soete ins Bett, nachdem er die Matratze beiläufig von Unrat und Staub befreit hat, steckt sich eine Zigarette an und lässt immer wieder eine Kleberolle an sich vorbeikullern. Der Raum ist abschüssig, aber ihn berührt das nicht. Schließlich wundert sich Bas Devos über das Verschwinden seines Zimmers. Aber danach setzt das Denken schon wieder aus, als wären alle Emotionen unter dicken Decken verpackt. Sie verstehen einfach nicht, was hier passiert ist. Es ist so, als würde jemand bis zum Hals im Wasser stehen und sich darüber wundern, dass die Füße nass sind.
Nach der Aufführung sagt eine junge Zuschauerin, es habe sich angefühlt, als würde man durch ein Bild von Gregory Crewdson gehen. Der amerikanische Fotograf, dessen Werke wie Standbilder aus Horror- oder Science-Fiction-Filmen wirken, inszeniert mit großem Aufwand eine neue Wirklichkeit: ein Blumenmeer im Wohnzimmer oder Bäume, die im Schlafzimmer aus dem Boden wachsen. Doch bei ihm geht es mehr um aufwändige Überwältigungsstrategien, um Künstlichkeit. Gregory Crewdson ist Hollywood.
Größere Parallelen gibt es bei den Belgiern zu dem deutschen Künstler Gregor Schneider, der seit bald 20 Jahren an seinem „Haus u r“ in Mönchengladbach-Rheydt arbeitet und in das Wohnhaus neue Räume einbaut oder diese in Bewegung versetzt. Weil sie mit ihm den spielerischen Ansatz teilen und es immer auch darum geht, dem Zuschauer ein ganz anderes Raumgefühl zu vermitteln.
Den drei Künstlern ist mit „Known Some Call Is Air Am“ ein ruhiges, äußerst sinnliches Experiment gelungen. Eine begehbare Skulptur, bewohnt von drei Männern, die sich selbst verloren haben und davon nichts spüren.

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Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 18. Mai 2009


Kreative Wut in Briefen

Dietrich Kittner liest in seinem Programm „Sehr geehrte Drecksau“ aus Korrespondenzen vor

HILDESHEIM. Einer wie Dietrich Kittner leidet immer. Da wundert es nicht, dass er schon 1960 das „Göttinger Studenten- und Dilettanten-Kabarett DIE LEID-ARTIKLER“ gründete. Namen sind immer auch Programm. Aber einer wie Dietrich Kittner will auch etwas ändern. Dafür erzählt er nicht nur lustige Geschichten, sondern er schreibt Politikern auch Briefe oder stellt sich während einer Bundeswehrübung in Hammelburg vor einen Panzer. „Das stimmt wirklich“, sagt er immer wieder während seines Programms in der Kulturfabrik. So als würde auch er selbst immer noch an der politischen Realität zweifeln, die er da schildert.
Mit Krawatte in durcheinandergewürfeltem Schwarz-Rot-Gold verliest Dietrich Kittner die Nachrichten. Von der BRD-AG, die auf Mecklenburg-Vorpommern verzichten könnte, ist dort die Rede. Es wird von der 42. Gesundheitsreform und von einem geplanten Einheitssymbol am Brandenburger Tor berichtet: eine 24 Meter hohe Banane. Und um das Sippensystem zu stärken und Geld zu sparen sollen die 25- bis 67-jährigen Hartz-IV-Empfänger doch wieder zu ihren Kindern ziehen.
Als Zuhörer bei Dietrich Kittner braucht man nicht nur politisches Interesse, sondern auch Sitzfleisch. Dreieinhalb Stunden reinstes politisches Kabarett. Bei dem 73-Jährigen fühlt sich das an wie eine Art Initiationsritus. Wer den Raum nicht als Linker verlässt, der hat sich sicherlich wie ein Seefahrer Wachs in die Ohren geschmiert, um von den heulenden Sirenen die politischen Verhältnisse nicht bitterböse in den Kopf eingefräst zu bekommen. Und zwischendurch leiert die Nationalhymne aus den Lautsprechern, als wäre sowieso schon alles kaputt.
Das Schöne bei Dietrich Kittner ist, dass es hier kaum seichte Kalauer gibt, oder mal zwischendurch irgendwo in der Promi- oder Familienwelt nach parodistischem Material gesucht wird. Hier ist alles Politik. Na gut, der Papst bekommt auch mal einen ab.
Mit einem besonderen Kniff schafft er es außerdem, Realität und Satire fasst deckungsgleich übereinanderzulegen. Denn in seinem Programm „Sehr geehrte Drecksau“ liest Dietrich Kittner aus Briefen vor, die er Politikern geschrieben hat. Den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl fragte er etwa, wen dieser genau gemeint hatte, als er von Berufsdemonstranten sprach, die von einer ganz bestimmten Gruppe bezahlt würden. Eine konkrete Antwort bekam Dietrich Kittner nicht, aber es sei schon interessant gewesen, dass er vom Pressesprecher der CDU ein Schreiben bekam, obwohl er doch der Regierung geschrieben hatte. Da seien wohl Partei und Regierung nicht ganz so streng getrennt, meint er grinsend.
Es sind lange Briefe, die Dietrich Kittner schreibt. So auch über ein Erlebnis bei einem Waldspaziergang in Hammelburg als er plötzlich in ein Manöver geriet und zum Partisanen wurde. Das erzählte er natürlich anschließend dem Verteidigungsminister. „Alles wahr!“
Gerade die Ausführlichkeit der Geschichten ist das Besondere an Dietrich Kittners Kabarett. Er ist eben nicht allein auf Pointen aus. Und nicht zuletzt lässt er die Politiker sich selbst entlarven, wenn er genüsslich ihre floskelhafte Sprache auseinandernimmt oder sich in deren Antworten auf seine Briefe zeigt, was es bedeutet, immer schön unkonkret zu bleiben.
Dietrich Kittner ist ganz konkret und voller kreativer Wut. Ein Satiriker wie er ist wichtig, auch wenn seine Arbeit oft nur ein Nadelstich ist, ohne dass Blut fließt.

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Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 20. April 2009


Und jetzt zeigt mal, wie ihr eine Geburt spielen würdet

cobratheater.cobra spielen „Die Affenfrau“ in der Eishalle der Domäne Marienburg

HILDESHEIM. Nichts. Totale Dunkelheit. In diese Ungewissheit werden die Besucher an ihren Platz geführt, der Weg nur von einer kleinen Funzel erleuchtet. Und als dann ganz langsam, knackend die Scheinwerfer die Bühne erleuchten, werden die riesigen Tannen an der Rückseite sichtbar und plötzlich ist der Raum erfüllt vom Duft dieser Bäume. So als hätte die Dunkelheit zuvor alle Gerüche verschluckt.
Bildgewaltig beginnen cobratheater.cobra ihr Stück „Die Affenfrau“. Vor dem Tannenwald stehen aufgereiht kleine und große Ventilatoren, an der Seite grüne Glas-Wasserflaschen. Ein Stillleben mit Harzduft. Schön.
Irgendwann kämpft sich ein Paar (Wanja van Suntum und Juliane Hahn) aus dem Unterholz. Wortlose Hinterwäldler. Sie rückt immer wieder ihren Faltenrock zurecht, er übt sich im Posieren. Eine Szene mit gestischer Stärke und komödiantischem Potential. Dann droht für einen Moment alles im Chaos zu gipfeln, als eine fallende Tanne eine Kettenreaktion auslöst. Aber der unfreiwillige Unfall wird gekonnt integriert. Bis die Affenfrau (Andrea Nolden) auftaucht und alles in Bewegung bringt.
Als assoziative Grundlage hat sich die junge, studentische Theatergruppe dieses südamerikanische Indianermärchen ausgesucht. Die Umsetzung unter der Regie und Dramaturgie von Martin Grünheit und Anne-Süster Andresen ist jedoch bestimmt von Improvisationen. Eine Handlung ist nur schwer nachzuvollziehen, auch wenn man Motive aus dem Märchen, das im Begleitheft abgedruckt ist, wiedererkennt.
Vielmehr geht es cobratheater.cobra um die Auflösung der Geschichte in Bildern und Gesten – postdramatisches Theater eben. Und das Theater wird als Theater vorgeführt. So fordert die Hinterwäldlerin später die Maske von der Affenfrau: „Jetzt mach‘ ich die Affenfrau.“ Rollentausch auf offener Bühne. Später probiert sich auch Wanja van Suntum mit Affenmaske und leicht gebückter Haltung. Und weil irgendwann die Äffin und ein junger Mann ein Kind zur Welt bringen, werden einfach mal die theatralen Möglichkeiten durchexerziert, so als hätte es die Ansage gegeben: Und jetzt zeigt mal, wie ihr eine Geburt spielen würdet. Mal wird eine Tanne herausgepresst, Wanja van Suntum kämpft sich durch einen Geburtskanal aus Wind, als er gegen das Gebläse der Ventilatoren rennt, oder Juliane Hahn quält sich zwischen den Beinen ihrer Mitspieler hindurch und so weiter…
Das Interesse der Theatergruppe konzentriert sich auf ein körperbetontes Spiel, ironische Brechungen und die Ausstellung von Prozessen. Spaßtheater, ohne jedoch in Oberflächlichkeit zu versinken. Das sind definitiv ihre Stärken.
Trotzdem hätte man sich mehr Klarheit gewünscht, was die Geschichte und die Intention angeht. Die Affenfrau wächst bei den Menschen auf, wird domestiziert und legt irgendwann das Fell ab. Es geht um das Tier im Menschen, das Begleitheft spricht auch von Utopien in Zeiten der Krise und Rückwärtsgewandtheit der Gesellschaft. Aber in dieser Hinsicht will das Stück nicht richtig zünden, ist vielleicht doch etwas zu brav. Auch als sich Juliane Hahn schließlich am Ende in der Rolle des jungen Mannes von der Äffin und ihrem Kind abwendet, noch einmal ins Publikum blickt und sagt: „Ihr guckt ja auch so, ihr Affen“, funktioniert das nicht als Selbstbespiegelung. Man ist doch noch Mensch geblieben.

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Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 15. April 2009


Aus dem Leben einer Speikobra

Atze Schröder präsentiert sein Programm Mutterschutz in der ausverkauften Halle 39

HILDESHEIM. 1997 ließ sich Atze Schröder seinen Namen beim Deutschen Patentamt als Marke schützen. Dabei ging es ihm wahrscheinlich nicht allein um Geschäftssinn. Diese Maßnahme ist auch ein Zeichen dafür, dass dieser Mann eigentlich nur als Figur existiert. Es gibt niemanden hinter der Sonnenbrille. Warum hieß wohl seine Fernsehsendung „Alles Atze“? Auch die Perücke tackerte er an seinem Kopf fest, damit sie ihm niemand mehr wegnehmen kann. Wer „Atze Schröder ohne Perücke“ googelt, bekommt aber dann doch den Comedien nackt zu sehen – jedenfalls obenrum. Aber wer seinen bürgerlichen Namen im Munde – oder Texte – führt, der erhält gewiss ein Schreiben von einem Gericht. Da versteht Herr …, ähem, Atze Schröder keinen Spaß. Auszuteilen ist eben schöner als einzustecken.
Trotzdem heißt sein Programm nicht „Wie halte ich als Comedien mein privates Leben aus der Öffentlichkeit raus, damit der Schein einer authentischen Figur entsteht“. Nein, es heißt einfach nur „Mutterschutz“.
AC/DCs „Thunder Strike“ röhrt aus den Lautsprechern, bricht irgendwann ab und macht das Feld frei für Heintje: „Mama“. Ja, heute soll es ein kuscheliger Abend werden. Auch die drei Meter großen Teddybären am Bühnenrand singen mit. Und dann erzählt der Ruhrpottproll wie er auf sein Thema gekommen ist. Als eine Mutter auf der Streichelwiese des Duisburger Zoos zu ihrem Kind sagte „Mach die Mäh mal ei“, wusste er, dass er sich dieser Spezies widmen muss. Gerade auch in Zeiten, in denen Prominente rund um die Welt Kinder adoptieren, Heidi Klum direkt nach der Niederkunft wieder malochen geht und wir eine Familienministerin mit sieben Kindern haben, die „noch längst nicht fertig ist“. Aber statt dem Thema irgendetwas Neues abzugewinnen, ergeht sich Atze Schröder in ewigen Klischees und vulgären Zoten. „Wisst ihr was eine Tupperparty ist? Mütter trinken Eierlikör und zeigen ihre Dosen.“ Überhaupt sind ihm Synonyme das liebste Arbeitsmaterial, weil er dann immer wieder das Gleiche erzählen kann und es nur mit ein paar neuen Worten aufhübschen muss. Sein Penis ist heute mal eine „Speikobra“ und Frauen sind Geräte oder eine Östrogenfeier.
In einer längeren Geschichte erzählt Atze Schröder dann von der Schwangerschaft seiner Nachbarin Ute und wie sie gemeinsam auf der Kuscheldecke Bambi geguckt haben. Aber natürlich darf sie am Ende nicht in seinen Porsche, als die Fruchtblase geplatzt ist. Wir erfahren auch, was richtige Frauenfilme sind und warum Atze Schröder bei Brokeback Mountain geweint hat – aus Wut natürlich. Wie schön es doch sein muss, so richtig reaktionär zu reden. Übrigens, Frauen ohne Absätze joggen oder bringen die Post.
„Mutterschutz“ ist bei Atze Schröder kein Anliegen. Mütter müssten wohl eher vor ihm in Schutz genommen werden. Dieser Comedien ist nicht einer, der liebevoll überspitzt den Irrsinn der Gesellschaft verarbeitet, sondern immer nur auf diejenigen draufhaut, die sowieso schon vorgeführt werden. Was die Privatsender für die Super Nanny oder den Ernährungsberater an Menschen – die wohl nicht richtig einschätzen können, was gerade mit ihnen passiert – vor die Kamera schleifen, wird anschließend von Atze Schröder noch ein zweites Mal durch den Dreck gezogen. Wertschöpfungskette nennt man das wohl. Aber eigentlich spielt das Thema auch nur eine untergeordnete Rolle, Hauptsache die Pointen sitzen und sind richtig böse.
Atze Schröders Talent ist es, seine Geschichten so erzählen, als würden sie ihm gerade spontan einfallen. Ein Kumpel, um den sich die Jungs mit ihrem Bier in der Kneipe scharen und der dann alles so ausspricht, wie man es selbst nicht zu sagen wagen würde. Da steht also keiner auf der Bühne und erzählt Witzchen, sondern dieser Typ verbreitet einfach die besten Geschichten aus seinem Leben. Sex, Bier und Porsche fahren. So wie eben alle gerne leben wollen.
Vielleicht ist dem privaten Atze Schröder gerade das als Konsequenz seiner Arbeit zu peinlich und er versteckt deswegen die wahre Person hinter der Figur. Fernab von der Bühne immer mit dieser Prolligkeit und dem Sexismus identifiziert zu werden, wäre ihm wohl doch zu viel.

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Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 9. Februar 2009


Ein Meister der bedeutungslosen Pause

Johann König liest im Audimax aus seinen „Gestammelten Werken“

HILDESHEIM. Wenn das Humorfach ein Topf wäre, müsste dieser bis an den Rand gefüllt sein. Auch wenn das Ding jetzt nicht mehr überläuft und vor allem die Formate im Fernsehen wieder abgenommen haben, gab es wohl noch nie so viele Humorschaffende wie heute. Aber weil irgendwann scheinbar die Themen ausgehen, retten sich die Comedians in Rollen - Abgrenzungsstrategie. Johann König hat für sich eine Mischung aus Rüdiger Hoffmann und Robert Gernhardt erfunden. Der etwas langsame, klare, abseitige Reime schreibende, melancholische Chaot. „Der Hund an der Leine / hat keine Beine. / Darum ist der Hund / auch untenrum wund.“
Als Johann König erzählt, wie er damals mit kleinen Gedichten aus „assoziativen Versatzstücken“ angefangen hat, bringt er damit seine Arbeitsweise schon ziemlich genau auf den Punkt. Nur dass seine Assoziationen eben immer etwas ungewöhnlich sind. Wenn ein Selbstmörder von einer Brücke in den Tod springen will, bricht bei Johann König das Bauwerk zusammen, die Gaffer treiben ins Meer und der Selbstmörder geht einfach wieder nach Hause. Ein schönes, poetisches Bild.
Seine Gedichte sind präzis verdichtete Gebilde, aber in seinen Geschichten zeigt Johann König Schwächen. Es steckt wenig Humorpotential in seinem Kampf mit der Zitronenscheibe in der Cola, die ihn am Trinken hindert. Auch die Episode im Supermarkt, bei der er einfach mal einen fremden Einkaufswagen zur Kasse schiebt, um nicht immer die 15 gleichen Produkte zu kaufen, ist minder witzig. Hier lebt das Erzählte allein aufgrund von Johann Königs Vortrag, bei dem er sich über seine eigenen kruden Gedanken wundert.
Und dann macht er mitten im Reden eine Pause. Er fasst sich mit der Hand an die Stirn, grinst und schaut auf die Uhr. „So, dann hätten wir das auch geschafft…“ Johann König ist nicht nur der stammelnde Wirrkopf, sondern auch ein Meister der bedeutungslosen Pause und dem Unterhaltungsprinzip Langeweile. In seiner Darstellung scheint immer die Last einer ganzen Existenz durch. Endlich darf über einen Mann gelacht werden, der sich in einer depressiven Melancholie ergeht. „Kennt ihr das, wenn man von dem eigenen Gelaber total müde wird?“, fragt Johann König. „Mir ist oft langweilig, auch bei der Arbeit.“
Besonders gut funktioniert Johann Königs Masche aber nicht auf der Bühne sondern im Dialog mit Prominenten. Gelegentlich taucht er in der WDR-Sendung „Zimmer frei!“ auf, trägt ein Gedicht vor und verwickelt die WG-Aspiranten in ein Gespräch oder schweigt einfach. Und gerade dieses Schweigen fordert eine Reaktion der Prominenten heraus, die viel über einen Menschen verrät.
Das Schöne dabei ist, dass auch auf der Bühne nie ganz klar wird, ob er jetzt gerade wirklich keine Lust mehr hat. Denn Johann König ist jemand, der auch dann noch als Figur wahrgenommen wird, wenn er die Wahrheit sagt. Wenn er erzählt, vor seinen ersten Auftritten habe er eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester gemacht, ist das ein großer Lacher – auch wenn es wahr ist. Aber er hält Dichtung und Wahrheit stets in der Schwebe (sein richtiger Name ist nicht René Otzenköttel, wie er auch behauptet, sondern Johannes Köhn), was dazu führt, dass man wiederum fiktive Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt abklopft.
Johann König hat in seinem Programm nicht wenige Momente, die wirklich witzig sind. Er hat die „funny bones“, trägt die Witzigkeit im Körper und muss eigentlich kaum etwas machen, um die Menschen zum Lachen zu bringen. Aber gleichzeitig ist auch genau dies mitunter seine Schwäche und man wünscht sich eine Renaissance des Inhalts. Warum gibt es niemanden mehr, der es wie der große Loriot schafft, das Alltägliche genau zu beobachten und in Sketchen überhöht darzustellen, so dass wir über unsere eigene beschränkte Spießbürgerlichkeit lachen können und nicht nur über einen Mann auf der Bühne? Vermisst wird die Darstellung von echten menschlichen Schwächen und nicht so sehr die immer wiederkehrende Darbietung von Klischees.

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Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 2. Februar 2009


In der Anstalt brennt noch Licht

Helge Schneiders grandioser Ritt durch einen Jazzclub
voller Absurditäten und Albernheiten

SIEGEN. (wp) "Katzeklo" singt er nicht. Nur die Melodie lässt er einen Takt lang bei "Fly Me To The Moon" anklingen. Helge Schneider stolpert lieber assoziativ von einer absurden Geschichte in die nächste. Mit einer roten Nase im Gesicht und einem schweren Koffer in der Hand betritt Helge Schneider die Bühne der Siegerlandhalle. Dort wartet schon seine Band. Er holt ein winziges Saxophon aus dem Koffer und bläst mit den Kollegen "Cheek To Cheek". Es dauert lange, bis er etwas sagt. Er habe von Marcel Marceau gelernt, wie man pantomimisch eine Heizung oder ein Radio anmacht, sagt er und dreht in der Luft herum. "Ich habe auch eine Schallplatte mit Pantomimen gemacht."

Winzige Assoziationen reichen ihm,
um in eine absurde Welt abzuschweifen.
Foto: Tim Meyer

In Helge Schneiders Welt regiert eine Fantasie, die nicht nur die Bodenhaftung verloren hat. Für so etwas Banales wie die Schwerkraft interessiert sie sich gar nicht. Der improvisatorische Jazzvirus hat jede Gehirnwindung des 52-Jährigen befallen. So wie er Musik macht, so erzählt er auch. Wie von einem zwanghaftem Assoziationssyndrom befallen, mäandert er durch Geschichten, die nur marginal mit der Wirklichkeit zu tun haben und irgendwie doch immer etwas über das Leben erzählen.

Zwanghaftes Assoziationssyndrom

Und der Rhythmus der Geschichten ist die Musik. Auch wenn die Instrumente gerade schweigen. Gleich zu Anfang stellt Helge Schneider seine Band vor. Pete York (Schlagzeug), Sandro Giampietro (Gitarre), Rudi Contra (Kontrabass und Tuba) sowie Bodo Oesterling und Sergej Gleithman (Perkussion) sind mehr als Staffage für den Mülheimer, der meistens am Klavier sitzt. In dem Können der Bandmitglieder zeigt sich, dass für Helge Schneider die Musik immer mehr als eine Umrahmung für seine Geschichten ist. Sie ist eine ernst-hafte Angelegenheit und sie verschafft dem Mann sein Timing. Die Musik hat ihn auch die sprachliche Improvisation gelehrt.
Als Einleitung für seinen neuen Song "Die Trompeten von Mexiko" erzählt Helge Schneider von Mexikanern unter riesigen Sombreros und von auf Kakteen aufgespießten Graugänsen, die wegen des "Scheißwetters" nicht mehr nach Afrika fliegen. Und dann sind da noch die Japaner. In 100 Jahren schauen sie sich die Altstadt Siegens an, die dann vor allem aus Handy-Läden und Nagelstudios bestehen wird. Wo die Zusammenhänge sind, ist irrelevant. Wer versteht schon das Leben?
In der Sinnfreiheit von Helge Schneiders Geschichten zeigt sich seine Abkehr von einer Welt, mit der er nichts zu tun haben möchte. Andere würden vielleicht in eine Anstalt eingewiesen werden. Helge Schneider hat eine Bühnenpersönlichkeit entwickelt, die es ihm erlaubt, ein Ventil für seinen Wahnsinn zu finden. Seine gesellschaftskritische Haltung zeigt sich in der Figur des albernen Clowns, der das Publikum unterhält, während die Atombomben fallen.
Den Helm für den Schutz vor der radioaktiven Strahlung bringt er nach der Pause mit. Er sei aus einem Ökoladen und aus Plastik, erklärt er. Zum Angewöhnen. Aber nur ein Stahlhelm kann später vor Atom schützen. Man müsse ja gerüstet sein, wenn der amerikanische Präsident müde auf den roten Knopf fällt.
Helge Schneider freut sich auch über den Streik der Lokführer. Er habe eine Draisine - ein mit Muskelkraft angetriebenes Schienenfahrzeug - mit der er von Hamburg bis München nur vier Stunden brauchen würde. "Haltet durch", ruft er den Lokführern zu. "Dann bricht die Wirtschaft bald zusammen und wir können noch einmal von vorne anfangen." Aber dann fällt ihm ein, dass es vielleicht doch nicht so toll wäre, weil man beim Neubeginn auch die Filme von Heinz Rühmann wieder sehen müsse.

Helge und Udo sind Fink und Zeisig

Höhepunkt in seinem Programm "Akopalüze Nau" ist ein Duett mit Udo Lindenberg. In "Pinguine können nicht fliegen" verstellt Helge Schneider so gekonnt die Stimme, dass man sich fragt, ob der echte Udo nicht vielleicht doch hinter der Bühne steht. Sie singen von zwei einsamen Männern, die sich vorstellen ein Fink und ein Zeisig zu sein. Liebevoller kann Satire kaum sein.
"Ich habe viel Quatsch geredet. Und an viel war auch wenig dran", sagt Helge Schneider bevor er eine mit Free-Jazz durchsetzte Version von "Mackie Messer" spielt. Das stimmt natürlich nicht. Kaum ein Humorist kann so verrückt und kreativ unterhalten wie dieser Mann.

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© Westfalenpost, 16. November 2007


Inhalt

Fantasien eines Postboten
Kersten Flenter und Christoph Knop entführen leidenschaftlich in die Welt von Charles Bukowski und Tom Waits

Ein Erdbeben lässt die Gefühle verstauben
Drei Belgier zeigen mit „Known Some Call Is Air Am“ eine verworrene Welt nach der Katastrophe

Kreative Wut in Briefen
Dietrich Kittner liest in seinem Programm „Sehr geehrte Drecksau“ aus Korrespondenzen vor

Und jetzt zeigt mal, wie ihr eine Geburt spielen würdet
cobratheater.cobra spielen „Die Affenfrau“ in der Eishalle der Domäne Marienburg

Aus dem Leben einer Speikobra
Atze Schröder präsentiert sein Programm Mutterschutz in der ausverkauften Halle 39

Ein Meister der bedeutungslosen Pause
Johann König liest im Audimax aus seinen „Gestammelten Werken“

In der Anstalt brennt noch ein Licht
Helge Schneiders grandioser Ritt durch einen Jazzclub voller Absurditäten und Albernheiten

Kindergeburtstag leben
Außer Zoten wenig Neues / Otto gastiert in der Siegerlandhalle

Wo sind all die Idealisten hin? Sie brechen in eure Häuser ein
Staatstheater Mainz zeigt im Apollo "Die fetten Jahre sind vorbei"

Der Schimmel reitet in Husum, Hamburg und New Orlean
"N.N. Theater" zeigt im Apollo "Der Schimmelreiter" als Klamauk und brave Satire

Ein Drama der Stimmen
„Der Kick“ als Hörspiel. Ein Theaterbesuch mit einem Blinden.
(::: Festivalzeitung :::)

Ach du dickes Ei! Ein Stück in 24 Stunden
(::: TAZ :::)

Eine wilde Assoziationsreise
„Das Vollplaybacktheater“ spielt die trashige Version eines „Die drei ???“-Klassikers

Einmal Hitler mit Alles, bitte!
Serdar Somuncu macht Hitlerwitze und liest aus „Getrennte Rechnungen"

Hinter dem letzten Vorhang wölbt sich etwas
Karl Miller lädt zu seiner letzten Show ins Stadttheater ein und spricht über Sex

Kindergeburtstag leben

Außer Zoten wenig Neues / Otto gastiert in der Siegerlandhalle

SIEGEN. (wp) Nächstes Jahr wird Otto Waalkes 60 Jahre alt. Aber erwachsen ist er deswegen noch lange nicht. Er wird immer der zotige Schüler bleiben, der die dümmsten Witze macht, aber in Deutsch nur Einsen schreibt.

Der Junge spielt die Scham. Langsam hebt sich die Fahne,
während Otto Ortsteile Siegens und der Umgebung aufzählt:
Niedersetzen, Mittelhees und Oberschelden.
Foto: Tim Meyer


Aber Otto hatte eigentlich nur Bestnoten, weil er von Robert Gernhardt abschrieb. Gernhardt ist tot, aber mit ihm begann ein Teil von Ottos Karriere. Der Friesenjunge hatte in den70ern einfach das Urheberrecht missachtet, ein Gernhardt-Gedicht aus dem Magazin "Pardon" geklaut und es auf der Bühne als sein Werk ausgegeben. "Lieber Gott, nimm es hin, dass ich was Besonderes bin." Strafe musste Otto nicht zahlen, aber fortan war der Lyriker sein Autor.
Auf der Bühne der Siegerlandhalle wird schnell klar, dass diese lyrischen Ausflüge in Ottos Programm fehlen. Es sei denn, er bringt sie in Form von alten Sketchen aus seiner über 30-jährigen Karriere. Ansonsten schießt Otto mit seinen Witzen nicht unter die Gürtellinie, er hält sich eigentlich nur in diesen Gefilden auf. Ohne Zote kein Lacher - ist die Stoßrichtung seines Programms.
Weil der kongeniale Autor fort ist - auch wenn der zweite langjährige Weggefährte Bernd Eilert weiterhin für den Komiker schreibt - kann Otto seinen Sprachwitz kaum am aktuellen Geschehen abarbeiten. Eine Ausnahme ist etwa seine Neudichtung des Liedes "El cóndor pasa", bei dem er Eigenheiten von allzeit präsenten Prominenten aufgreift: "Wer fragt uns täglich Löcher in den Bauch? Günter Jauch." Oder: "Wer schwängert Frauen gern beim Weihnachtstanz? Kaiser Franz." Schnelle Pointen, die niemandem wehtun, aber auch nicht wirklich berühren.
Also greift Otto wieder auf den Fundus seines Schaffens zurück. Als Videoprojektion kommt eine Szene aus dem ersten Otto-Film, er singt Lippensynchron "Mein kleiner grüner Kaktus" oder bittet zur Englischstunde. Letzteres ist noch am Komischsten, wenn er sich mit seinem Computer beschäftigt und übersetzt: "I have Windows - Ich habe Blähungen." Oder: "Attention - Ein Tannenbäumchen."
Vor allem ist Otto ein Liedermacher. Stings "Englishman in New York" wird zu "Ich bin ein Friesenjung" und in AC/DCs "Highway to hell" heißt es jetzt "Auf dem Heimweg wird's hell". Und immer singt das Publikum mit. Wahrscheinlich würde es Otto auch schaffen, die Menschen in einem Bierzelt Schillers "Ode an die Freude" singen zu lassen. Das Verhältnis zwischen Otto und seinem Publikum ist innig. Schon immer war er klug genug, das auch ökonomisch zu nutzen. So verteilt er an die vielen Kinder im Publikum zehn Ottifanten. Diejenigen die am Ende leer ausgehen, werden ihre Eltern sicherlich später so lange anbetteln, bis diese sich erbarmen und am Verkaufsstand einen Plüschelefanten erstehen. Auch das Programmheft ist eher ein Verkaufskatalog.
Was für Welten liegen da etwa zwischen Otto und Loriot. Vor zwei Tagen war der mittlerweile 83-Jährige in der ARD-Talkshow "Beckmann" zu Gast und sprach über sein Leben. Humor entstehe vor allem durch die Beobachtung der Wirklichkeit und mit Ernsthaftigkeit. An der Wirklichkeit ist Otto eher weniger interessiert. Seine Welt spielt sich im Knusperhaus von Hänsel und Gretels Hexe ab. Wenn er Xavier Naidoos "Dieser Weg" in eine Nacherzählung des Märchens umdichtet, wird daraus: "Dieser Keks wird kein weicher sein/ Dieser Keks ist steinhart und schwer." Um die heutige Welt zu verstehen, hilft Ottos Humor nicht weiter. Das ist schade. Ein guter Komiker sollte den täglichen Wahnsinn überhöhen, damit wir darüber lachen können.

 

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© Westfalenpost, 31. Oktober 2007


Wo sind all die Idealisten hin?
Sie brechen in eure Häuser ein.

Staatstheater Mainz zeigt im Apollo "Die fetten Jahre sind vorbei"

SIEGEN. (wp) Der Traum der Revolution ist ausgeträumt. Die 68er haben sich schlafen gelegt - im gemütlichen Bett des Kapitalismus. Sie sind revolutionsmüde. Und was macht die Generation Golf? Sie nennen sich Erziehungsberechtigte, steigen in Häuser ein und hinterlassen Chaos. Der Rest sind viele kluge Worte.
Das ist die Grundannahme des Stückes "Die fetten Jahre sind vorbei". Was vor vier Jahren als Film von Hans Weingartner erfolgreich ins Kino gebracht wurde, adaptierte im letzten Jahr Helmut Köpping vom Staatstheater Mainz für die Bühne. Aber kann es funktionieren, einen Film ins Theater zu bringen? Es kann.
Die drei jungen Schauspieler stellen sich frontal zum Publikum und prügeln ihre Anklage unters Volk. "Stellen Sie sich vor, während Sie hier sitzen, bricht jemand bei Ihnen ein, pinkelt in die Shampooflasche und scheißt in die Badewanne." Und warum das? Um Unordnung ins Leben der Geordneten zu bringen. Im Stakkato zählen sie die Leiden und Verbrechen der Welt auf, schaffen sich selbst eine Basis, von der aus nur noch die Revolution möglich ist. "Mercedes bedeutet Handel mit Atomwaffen und Antipersonenminen. Jeden Tag sterben 100 000 Menschen an Hunger."
Aber am Ende stellen sie atemlos fest: "Das interessiert hier keinen." Oder doch? Immerhin drei aus dem Publikum melden sich, als sie danach gefragt werden, ob sie gerade an eine Revolution denken.
Die drei jungen Revoluzzer, Jule, Peter und Jan, wollen aber nicht nur über eine Veränderung nachdenken, sie wollen sie leben. Peter und Jan steigen in Villen ein und stellen die Einrichtung um. Und immer hinterlassen sie mit der Unterschrift "Die Erziehungsberechtigten" eine Botschaft: "Die fetten Jahre sind vorbei." Eines Nachts geht auch Jule (Tatjana Kästel) mit Jan (Florian Hänsel) auf Einbruchstour. In dieser Szene betreten die Schauspieler den Zuschauerraum, schieben ihre Fiktion immer ein Stück weiter in die Realität hinein.
In der Geschichte landen die beiden jedoch zufällig im Domizil des Managers Hardenberg, dem Jule nach einem Auffahrunfall 100 000 Euro schuldet. Und weil der Hausherr plötzlich auftaucht und Jule erkennt, rutschen sie und der herbeitelefonierte Peter (Tim Breyvogel) in eine Entführungsgeschichte ab. Jetzt haben sie ihren Schleyer. "Einen treffen, hundert erziehen", schreit Peter. Das sich Hardenberg (Marcus Mislin) später selbst als Alt-68er outet, konfrontiert die Idealisten mit der bitteren Wahrheit: Irgendwann passt sich jeder an, weil die Rechnungen bezahlt werden müssen. Der Manager greift als Erklärung zum beliebten Churchill-Zitat: "Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch links ist, hat keinen Verstand."
Immer wieder kommt auch musikalische Schützenhilfe aus dem Off. Peter Licht bedankt sich bei den 68ern und bittet sie, jetzt aber zu gehen. Und Rio Reiser fordert mal wieder "Keine Macht für niemand". Auch wenn der Scherben-Song schon etwas abgenutzt ist, wirkt er im Stück als ein wichtiges Zeitdokument. Passender ist aber doch Peter Licht, der mit seiner fast gelangweilt vorgetragenen Bitte, den Zustand seiner Generation besser trifft. Kann die Revolution noch auf fruchtbaren Boden fallen?
Das Leben der Nachwuchsrevolutionäre versinkt langsam im Chaos. Auf der Bühne fliegen Zeitungen und Essenspackungen umher. Und was ist mit Hardenberg? In die Gesichter der drei schleichen sich Zweifel und Überforderung. Vielleicht spüren sie, dass die Realität die Ideen frisst. Am Ende versucht es Jan mit einen letzten Anlauf. Er denkt über eine Stadtguerilla nach und die Idee macht ihn fast wahnsinnig. An der Kasse warte eine Liste und die Leute aus dem Publikum sollen sich bitte eintragen. Aber es war ein Theaterstück und die Liste lag nicht da. Hätte sich jemand eingetragen?

 

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© Westfalenpost, 25. Oktober 2007


Der Schimmel reitet in Husum, Hamburg und New Orleans

"N.N. Theater" zeigt im Apollo "Der Schimmelreiter"
als Klamauk und brave Satire

SIEGEN. (wp) Es bleibt ziemlich viel unentschieden. Zwischen Sozialkritik, Satire, Klamauk und Anspielungen auf Umweltkatastrophen wabert der "Schimmelreiter" hin und her. Was Spannung erzeugen könnte, ist meist nur kraftlos.
In "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm wird die Sage von Hauke Haien erzählt, der aus einer Kleinbauernfamilie stammt und es bis zum Deichgrafen bringt. Auch weil er die Tochter des alten Deichgrafen heiratet. Und dann ist da noch der Großknecht Ole Peters, der auch an Elke interessiert ist. Es wird gebuhlt, Hauke gewinnt. Als Hauke Haien endlich Deichgraf ist, muss er gegen Widerstände ankämpfen, weil er eine neue Deichform entwirft. Er setzt sich durch und mit seinem Schimmel reitet er über seinen Deich und prüft ihn. Aber dann kommt die Flut. Ehefrau Elke und die Tochter Wienke werden fortgerissen und auch Hauke Haien stürzt sich in die Fluten. Es heißt, wenn heute dem Deich Gefahr drohe, reite er mit seinem Schimmel wieder über den Deich.
Die Sage vom Schimmelreiter wird bei Storm in einer Rahmenhandlung von einem Schulmeister erzählt. Beim "N.N. Theater" übernimmt das die ehemalige Hamburgerin Erika, die jetzt in New Orleans wohnt. Natürlich hat sie schon die Sturmflut in der Hansestadt erlebt und muss sich jetzt mit ihrem Neffen Uli aufs Dach ihres Hauses retten und hoffen, von einem Hubschrauber gerettet zu werden. Katrina hat in der Stadt gewütet. Aber die Hubschrauber sind alle zum Kampf im Irak.
Die Anspielungen auf die sozialen Auswirkungen des Hurricanes bleiben zahme Randnotizen und Späßchen über amerikanischen Patriotismus, Bush und Irakkrieg sind verbraucht, wenn man keinen neuen Dreh findet.
Leider können auch die Schauspieler nicht überzeugen. Sie suchen Halt in übertriebenen Gesten und einem durchweg affektierten Sprachduktus. Das klingt bemüht und erinnert eher an Volkstheater, das seinem Publikum die Witze mit dem Holzhammer einprügelt. Gerade in dieser Unentschiedenheit zwischen politischem Anspruch und einer Inszenierung, die es jedem recht machen will, liegt das Problem bei der Arbeit des Regisseurs George Isherwood.
Die Erzählung wird werktreu wiedergegeben. Aber der Klamauk - Kühe geben Milch in Tetrapacks, Putzschrubber werden zu Blumen und die Schauspieler verwandeln sich mit einem Fellüberwurf in Schafe - ist doch etwas zu platt. Der Trash ist gewollt, das zeigt auch die simple und praktische Bühneneinrichtung. Überzeugen kann dieser Ansatz trotzdem nicht, weil alles zu brav bleibt, zu sehr auf Sicherheit bedacht ist. Das Stück will nett sein und einfach nur gefallen.
Als Highlight bleibt jedoch die Livemusik in Erinnerung. Am Bühnenrand sitzt die Multinstrumentalistin Antje von Wrochem, spielt Geige, Harfe, Gitarre, Glockenspiel und erzeugt Geräusche mit obskuren Gerätschaften. Sie erinnert damit an die Zeit, als Pianisten im Stummfilmtheater saßen und die Bilder auf der Leinwand vertonten.
Der Applaus am Ende ist trotzdem lang und überzeugend. So scheint das "N.N. Theater" aus Köln doch einen Nerv getroffen zu haben.

 

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© Westfalenpost, 25. Oktober 2007


Ein Drama der Stimmen

„Der Kick“ als Hörspiel. Ein Theaterbesuch mit einem Blinden.

„Ich bin der Mann mit dem weißen Stock.“ Schon bei unserem ersten Telefonat macht sich Jonas über meine Frage lustig, wie ich ihn denn erkennen werde. Wir wollen uns für ein Experiment treffen. Natürlich gibt es Berührungsängste. Er taucht aus der S-Bahn auf, wir begrüßen uns, gehen los. Sachte, behutsam berührt er meinen Arm. Jonas ist blind, und wir besuchen gemeinsam „Der Kick“.

„Das Geräusch, als die große Kiste das erste Mal verschoben wurde, war ein ganz toller Moment“, erzählt der 27-Jährige. Im Vergleich zu den Stimmen tritt dieses Geräusch für ihn unvermittelt, massiv auf. Er muss an den Sprungkasten in der Schule denken, ein Klavier, das verschoben wird. Jonas mag die Bühne im Gewerbehof überhaupt sehr gern. Für ihn ist es ein kalter, offener Raum, der ihn manchmal an experimentelle, elektronische Musik, das alte Tempodrom oder an ein leeres Schützenfestzelt erinnert. Über Klänge in Räumen kann Jonas ohnehin lange reden. Die Stimmwelten. Zum Beispiel wie es sich anhörte, als sie auf einem Segeltörn von Norwegen nach Island in einem Industriehafen anlegten und sich dort alles bewegte. „Gespenstisch!“

Die Stimmen der beiden Schauspieler kann er dagegen nicht im Raum lokalisieren. Sie tragen Mikroports. Mir fällt vor allem die Unruhe im Publikum auf. Ich versuche mir vorzustellen, wie Jonas das Stühlerücken und Husten empfindet. Ihn stört es nicht. Er findet es reizvoll, wie die Schauspieler die Personen sprechen: „Die Frau hat teilweise extrem verschiedene Stimmen. Geil. Vor allem, wenn sie die Männer gesprochen hat.“ Er braucht nicht zu sehen, dass Susanne-Marie Wrage dabei auch ihre Körperhaltung ändert. Er hört das.

Jonas beeindrucken die Atmosphärenwechsel. Die Plastizität der Charaktere und die unterschiedlichen Orte, die er sich zu den Menschen denkt. Er beschreibt sie als eine Linie mit Brechungen. Schwer, dieses Bild nachzuvollziehen. „Dann stell’ dir vor, du schwimmst durch’s Meer und hast unterschiedlich warme Strömungen“, erklärt Jonas. Irgendwann verstehe ich ihn, wir brauchen aber Zeit, um eine gemeinsame Sprache zu finden.

Wir reden noch lange dann. Über die Menschen in Potzlow, das Theater, Science Fiction. Und über Wahrnehmung. Als wir wieder draußen sind und zum Alexanderplatz schlendern, verlassen wir die große Straße mit den Cafés und biegen in eine Seitenstraße. „Das Geräusch liebe ich“, sagt Jonas, als wir an einer sirrenden Trafostation vorbeikommen. Wir schweigen.

Aus der Festivalzeitung des Berliner Theatertreffens 2006, Mai 2006
# Festivalzeitung #


Ach du dickes Ei!
Ein Stück in 24 Stunden

Zu welcher Uhrzeit das Stück plötzlich ins Splatterhafte rutschte, können die vier Dramatiker nicht sagen. Es muss in den frühen Morgenstunden gewesen sein. Es hatte mit dem "philosophalen Ei" angefangen und jetzt tauchen am Ende des Stückes zwei Puppen mit abgetrennten Köpfen auf.
Wenn man sich nicht zum Schlafen hinlegen will oder kann, sucht sich der Kopf eben andere Kanäle. Knapp 24 Stunden sind die Schreiber in diesem Moment schon auf den Beinen und bis zur Premiere der "Intemporale24" sind es noch etwa zehn Stunden.
Der künstlerische Prozess bei diesem Projekt ist außergewöhnlich offen. Das Publikum darf überall hin. Den Schauspielern zuschauen, wie sie sich bei einer Aufwärmübung durch einen imaginären Wald kämpfen oder den Dramatikern gegenübersitzen, während sie brainstormen, recherchieren und schreiben.
Die Idee dazu, ein Stück in einem Tag entstehen zu lassen, hatten Marcel Sparmann und Lisa Trümner, beide Kulturwissenschaftler in Hildesheim. Davon begeistern lassen haben sich 40 Leute, die am vergangenen Freitag in einer ehemaligen Buchhandlung in Hildesheim vor einem Rattankorb stehen. Fünf Umschläge liegen darin, von denen nur Trümner und Sparmann den Inhalt kennen. In einem davon steckt ein Auszug aus dem Roman "Die Rückkehr des Tanzlehrers" von Henning Mankell und einer Seite aus dem Buch "Alchemie und Mystik". Das ist die Vorgabe. Daraus soll in 24 Stunden ein Theaterstück entstehen.
Das Stück heißt "Realife Paradummys In The Fire Of Eier Desire", handelt von vier mehr oder weniger autistischen Charakteren, die alle irgend etwas mit dem philosophalen Ei zu tun haben. Ein roter Faden, eine Handlung ist schwer zu erkennen. Aber dass es fast unmöglich sein würde, den zu finden, wussten alle sehr schnell. Gegen zwölf Uhr sagt Regisseurin Katja Kendler zu den Dramatikern: "Wir vertrashen es. Das ist das einzige, was wir machen können."
Es ist der gesamte Prozess, die Energie einer Mannschaft, die sich auf die Zuschauer während der 24 Stunden überträgt. Aber man muss sich darauf einlassen. Hier ist kein Angebot, das einfach konsumiert werden kann.
Im Stück, das das Publikum begeistert, aber verwirrt zurücklässt, hat Schauspieler Ulrich Reinhardt die besten Momente. Er erinnert stark an Mr. Bean. Schaut verwirrt, läuft wie auf Gummifüßen mit wiegendem Schritt und nestelt an seinen Fingern herum. Bei ihm wurde konsequent umgesetzt, viel mit Körpersprache zu erzählen. Und sein Monolog steht wie ein Motto für das ganze Konzept: "Eiweiß ist die Ursubstanz. In ihr ist alles vorhanden. Der Sinn und der Unsinn." Wenn man jetzt Eiweiß mit Intemporale24 ersetzt, ist das Projekt ziemlich gut beschrieben.

Aus der taz Nord, 7.2.2006 # TAZ #


Eine wilde Assoziationsreise

„Das Vollplaybacktheater“ spielt die trashige Version
eines „Die drei ???“-Klassikers

Die Generation Golf, also die heute etwa Dreißigjährigen, hatten als sie noch jünger waren ihre ganz eigenen Einschlafrituale. Da musste nicht die Tür zum Flur offen stehen oder irgendwo ein Licht an sein. Sie wollten noch eine Geschichte hören und dann entschlummern. Aber die sollten nicht die Eltern vorlesen. Sie folgten lieber Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews in ein Abenteuer und dann wurde es eine gute Nacht.
Auch die Schauspieler des „Vollplaybacktheaters“ sind Fans von „Die drei ???“, auch wenn sie heute ohne den laufenden Kassettenrekorder einschlafen. Ihre Gruppe entstand 1997 aus der freien Theaterszene in Wuppertal. Bei ihren ersten Stück lief einfach nur das Hörspiel und dazu agierten sie auf der Bühne. Heute sind die Aufführungen wilde Assoziationsreisen durch Film-, Schlager- und Hörspielklassiker. Grundlage ist immer noch eine Geschichte der berühmten Krimiserie, aber davon ausgehend kommt es zu unzähligen Verästelungen.
Im Vier Linden spielen sie an diesem Abend „Die drei ??? und das Gespensterschloss“. Die drei Detektive werden dabei von ihrem Auftraggeber Alfred Hitchcock ausgesandt, ein Schloss als Drehort für seinen nächsten Film zu suchen. Sie wählen das leerstehende Gemäuer des verstorbenen Stummfilmschauspielers Stephan Terrill, in dem es angeblich spuken soll. Aber die drei Jungs strotzen vor Mut und können am Ende natürlich auch das Geheimnis aufklären.
Die fünf Schauspieler des Vollplaybacktheaters nehmen die hanebüchene Geschichte als Grundlage für eine glänzendes Stück Trash aus überbordender Kreativität. Assoziieren, abschweifen, vertiefen ist ihre Arbeitsweise. Es gibt Kleinstszenen aus „Poltergeist“ oder „Ghostbusters“, Freddy Krüger taucht auf und der Geisterjäger John Sinclair übernimmt eine größere Rolle. Und wenn es gruselig wird, kann es passieren, dass der unsägliche Wolfgang Petry plötzlich sein Lied mit der Hölle anstimmt. Das ist dann eben doppelt grausam. Dazu kommt die wunderbar einfache Ausstattung, die den Charme eines Schultheaters ausstrahlt. Die Rucksäcke der Ghostbusters etwa wurden kurzerhand aus Schulranzen gebastelt.
Manchmal schießt die Inszenierung durch zu viele Ideen über das Ziel hinaus und wird etwas zu klamaukig. Aber meistens sind die Verknüpfungen sehr kunstvoll und erinnern etwa an den Bastard-Pop, wo aus der Verschmelzung von zwei Songs etwas ganz Neues entsteht.
Nicht zuletzt der Umstand, zum Vollplayback, alle Geräusche und Dialoge kommen vom Band, Theater zu spielen, macht die Aufführung zu einem einnehmenden Erlebnis. Die Schauspieler arbeiten sehr physisch und die Darstellung erinnert durch die starke Überzeichnung zuweilen an den Stummfilm. Davon wurden sie auch ganz klar beeinflusst, erklärt David J. Becher vom Vollplaybacktheater nach der Aufführung.
Da lag es für die Gruppe auch nah, selbst eine Vorgeschichte zum Gespensterschloss zu schreiben und zu erklären, warum der Stummfilmstar Stephan Terrill mit dem Aufkommen des Tonfilms scheiterte und sich in den Tod stürzte. Diese Vorgeschichte stellen sie dem eigentlichen „Die drei ???“-Abenteuer voran. Ein interessanter Effekt, der der Geschichte zusätzlich eine leichtfüßige Tiefe verleiht.
Das Vollplaybacktheater kann auf ganzer Linie mit seinem Stück überzeugen, auch wenn die durchaus einkalkulierte Überforderung des Zuschauers nicht immer einfach ist. Aber die Zielgruppe ist eben die von Florian Illies beschriebene Generation und bei denen gehören die auftauchenden Assoziationen zum kollektiven Gedächtnis. Es sind die Samples einer Zeit und eines Lebensgefühls.

Aus der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, Februar 2006.


Einmal Hitler mit Alles, bitte!

Serdar Somuncu macht Hitlerwitze
und liest aus „Getrennte Rechnungen“

Dieser Mann ist arrogant und böse. Er denunziert sein Publikum, macht sich über Deutsche lustig und sagt Sätze wie: „Lokalpatriotismus ist der Anfang vom Nationalsozialismus.“
Unter anderem sind Klischees sein Arbeitsmaterial. Während seiner Einbürgerung sei er eine Zeit lang bei den Anonymen Deutschen gewesen, erzählt er und fügt hinzu: „Als die Biertitten anfingen zu hängen, war ich Deutscher.“
Er wettert gegen Mädchen, die ein Kopftuch tragen und das mit dem Koran rechtfertigen. Deren türkische Mütter hätten doch über Jahrzehnte die Freiheit von diesem Symbol der Unterdrückung erstritten und jetzt unterlaufen die jungen Frauen das und erklären es mit Religiosität und Koran. Und das Absurdeste sei, dass diese Mädchen zu dem Kopftuch ein Stringtanga tragen würden, weil der Koran den ja nicht verbieten würde.
Bei Serdar Somuncu kommt eben keiner gut weg. Der 37-jährige Türke ist Kabarettist und Schriftsteller. Bei seinem Programm „Hitler Kebab“, das er im Vier Linden vorstellt, kennt er keine Grenzen des Humors. Und das ist angenehm. Seine Beleidigungen sind vollkommen übertrieben und arbeiten alle Klischees und Stereotypen ab. Aber steckt nicht in jedem Klischee auch immer ein bisschen Wahrheit?
Neben der Satire über Deutsche und Türken liest Somuncu zwei Geschichten aus seinem Buch „Getrennte Rechnungen“. Darin schildert er ergreifend die Lebenswirklichkeit von sich selbst und seinen Eltern, also Türken in Deutschland, die versuchen sich zu integrieren und oft an der Engstirnigkeit der Deutschen scheitern. So fällt Somuncus Urteil auch dementsprechend resignativ aus. Es würde vielen multikulturellen Fürsprechern eben nicht um Integration sondern um Assimilation gehen.
Somuncu hat sich an Hitler und Goebels gestählt. Jahrelang war er in ganz Europa auf Tour und las Auszüge aus „Mein Kampf“. Selbst in Konzentrationslagern und vor Neonazis hat er gelesen. Als ihn Hitler schon in den Schlaf verfolgte, hörte er damit auf und fing an, die Sportpalastrede von Goebels vorzutragen. Dafür wurde er sogar mit dem Satirepreis „Prix Pantheon“ ausgezeichnet.
Ob es moralisch falsch oder überhaupt erlaubt ist, Hitler und Goebels zu lesen oder satirisch anzugehen, ist eine Frage, die sich Deutsche vielleicht aus ängstlicher, politischer Korrektheit stellen. Aber auch Harald Schmidt hat schon gezeigt, für was man Hitler benutzen kann. In seiner Show verkleidete sich Schmidt als Führer, stellte sich ins Schneegestöber und warnte eindringlich vor dem Rechtsradikalismus.
So satirisch und überhöht alles auch sein mag, was Somuncu auf der Bühne treibt, ist ihm sehr ernst. Courage habe nur mit Dauer ihre Wirkung und es reiche eben nicht, einmal im Jahr die Friedensfahnen vor die Fenster zu hängen. Es geht ihm um eine Sensibilisierung. Er will mehr Fragen aufwerfen, als sie zu beantworten.
Somuncu ist ein politischer Kabarettist, wie es ihn mit dem Mut zur Brisanz wohl keinen zweiten in Deutschland gibt. Er hat ein Gefühl dafür, die Grenzen nur soweit zu überschreiten, dass es zwar wehtut, aber nicht die Persönlichkeit verletzt wird. Und das macht ihn wichtig.

Aus der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, Februar 2006.


Hinter dem letzten Vorhang
wölbt sich etwas

Karl Miller lädt zu seiner letzten Show ins Stadttheater ein
und spricht über Sex

Bevor Sie weiterlesen, bringen Sie bitte Ihre Kinder in die Schule und schließen Sie sich im Bad ein. Es sei denn Ihre Kinder sind volljährig und Sie selbst stört es nicht, wenn Sie vielleicht Rot anlaufen werden.
23.15 Uhr. Die Zeit, zu der auch Harald Schmidt damals im Unterschichtenfernsehen auf die Bühne kam. Der Vergleich wurde schon bemüht, aber Karl Miller ist in seinen besten Momenten nicht weit vom Meister entfernt. Und die vorerst finale Show im Stadttheater war ein bester Moment.
Das Thema: Sex. Nichts mit Blümchen, sondern mit Gummipuppen, Gleitcreme, Kondomen und Vibratoren. Schlüpfrige Witze kann jeder, aber Karl Miller greift in tiefere Schubladen. Dort hinein, wo es richtig glibberig ist.
Nach einem kurzen Rundumschlag zu aktuellen politischen Ereignissen, verwandelt er sich in die heiße Camilla. Blondes Haar, rotes Latexkleidchen und schwarze Highheels. Und damit das Kleidchen wenigstens ein bisschen Körper bedeckt, zuppelt es Miller immer wieder bis kurz unter den Schritt.
Während er dann mühselig versucht, einigermaßen züchtig auf seinem Schreibtisch zu sitzen, verschenkt er Sexweisheiten á la Lilo Wanders. Er stützt sich auf Woody Allens Meinung zur Masturbation („Selbstbefriedigung ist Sex mit jemandem, den ich liebe.“), hat in „PM Wissen“ gelernt, dass 33% der Spermien träge wären und 41% in die falsche Richtung schwimmen würden, und dass Kondome eigentlich dafür gemacht sind, damit Männer ihr Sperma wieder mit nach Hause nehmen können.
Da bis zu diesem Zeitpunkt noch niemand gegangen ist und auch nicht gehen wird, kommt nun das Sexspielzeug zum Einsatz.
Fünf Freiwillige aus dem Publikum müssen Kondome mit Sprühsahne füllen, ein Würstchen mittels Gleitcreme in ein Rohr stecken und mit Beischlafbewegungen auf einer Gummipuppe Luftballons zum Platzen bringen. Letzteres scheitert daran, dass die Gummipuppe wohl nicht für die Missionarsstellung vorgesehen ist. Sie zerplatzt beim ersten Versuch.
Nach jedem Spiel scheidet ein Kandidat aus, bis sich die letzten beiden in einem Karl-Miller-Show-Wissenstest messen müssen. Der einzig zähe Moment des ganzen Abends.
Warum die Show trotz all ihrer Deutlichkeit nicht vulgär oder peinlich ist, liegt an Karl Miller. Es ist sein Charme, unterstützt von dem leichten englischen Akzent. Die Engländer dürfen im Humor einfach immer ein bisschen weitergehen. Man denke nur an Monty Python. Und es ist die Stackeligkeit seiner Camilla. Sie ist zwar keine richtige Figur, Camilla ist immer Karl Miller, aber die Selbstironie und Direktheit wird in dem Kostüm noch einmal verstärkt.
Am Ende schenkt sich Miller selbst den Oscar, auf den er schon lange gewartet hat und hält eine wahre Oscardankesrede. Wenn auch immer viel Ironie am Werk ist, der Dank an die Familie und das Publikum kommen wirklich von Herzen.
Mit lang anhaltendem Applaus und einigen Standing Ovations wird Karl Miller verabschiedet. Hoffentlich braucht er nicht ein Jahr Kreativpause. Hören können ihn seine Fans sehr bald wieder. Ab dem 9. Juli um 19 Uhr und dann jeden zweiten Samstag wird Karl Miller live auf Tonkuhle senden. Und wenn das nicht reicht, einfach Bettelbriefe ans Stadttheater schreiben.

Aus der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, Juni 2005.